„Meine Partei ist schuld“

Gerlinde Schnell und Bruno Schuckmann haben ihrer Partei, der SPD in Mecklenburg-Vorpommern, den Rücken gekehrt, nachdem es zur Koalition mit der PDS kam. Ihre Motive für den Austritt sind ähnlich, ihre Konsequenzen nicht  ■ Von Heike Haarhoff

Gerlinde Schnell hätte den Weg zu ihrem Wohnhaus nicht beschreiben müssen. Im schmucken Stadtteil Wieck gleich hinterm Deich, 20 Busminuten von der Greifswalder Innenstadt entfernt, gibt man gern und bereitwillig Auskunft über jeden Schritt, den die 56jährige Politikerin unternimmt. Oder sagt man besser Ex- Politikerin? Keiner weiß das so genau dieser Tage.

Ein ebenso kurzer wie einschneidender Auftritt, dieser 26. Oktober. Gerlinde Schnell, geboren 1942 in Greifswald/Vorpommern, Mitbegründerin der Sozialdemokratischen Partei (SDP) in der sich auflösenden DDR des Jahres 1989, ab 1990 acht lange Jahre Abgeordnete im Schweriner Landtag und eine profilierte Frauenpolitikerin der neuen Bundesländer zudem, zieht eine „politische Konsequenz“.

An diesem 26. Oktober überreicht die Sozialdemokratin ihrem Parteifreund Harald Ringstorff, der inzwischen Ministerpräsident der bundesweit ersten SPD-PDS- Landesregierung geworden ist, ihre Austrittserklärung. „Persönlich“, betont sie.

Die Überwindung, die das gekostet hat, ist spürbar. Die SPD- Spitzengremien in Mecklenburg- Vorpommern hatten soeben mit großer Mehrheit beschlossen, Koalitionsgespräche mit der PDS aufzunehmen. „Meine Partei“, schloß Gerlinde Schnell, „ist schuld“. Daran, „daß Ex-SEDler wieder hoffähig werden“. Daß Menschen, die die junge Grundschullehrerin Schnell Mitte der 70er Jahre in Selbstzweifel und später in die Nervenklinik trieben, ein knappes Jahrzehnt nach der Wende erneut der Regierungspartei angehören. Knapp zwei Monate ist das her. Bruno Schuckmann will „gern darüber reden“ im schummrigen Cafe` des neuen Schweriner Einkaufszentrums. Zwischen seinem Job als Immobilienmakler und der abendlichen Sitzung des Stadtrats, die in zwei Stunden beginnt, nimmt er sich Zeit — als nunmehr parteiloser Stadtvertreter, seit er der SPD vor wenigen Wochen den Rücken kehrte.

„Der Austritt war die einzige Konsequenz. Letztendlich war die Auseinandersetzung mit der SPD verloren.“ Kurze, knappe Sätze. Fast wie auswendig gelernt. Läßt sich Bruno Schuckmann deswegen so ungern unterbrechen? „Daß die SPD an die Macht wollte, zusammen mit der PDS, ist legitim“, doziert er. „Aber nicht tragbar für mich.“

Schuckmann, der in Jeans und Jackett eher zierlich wirkt, müht sich redlich, sich als jemand zu geben, der seit Jahrzehnten zwischen den ganz Großen im Polit-Geschäft mitmischt. „Am 13. August '61 ist die DDR zusammengebrochen für mich.“ Die Finger fahren durch den Bürstenhaarschnitt. Sechs Jahre nach dem Mauerbau wurde Bruno Schuckmann 1967 geboren. Mit Anfang 20 trat er in die SPD ein. Weil er „Lust“ auf Politik hat, aber eben nicht auf „außerparlamentarische“. Heute ist er 31 Jahre alt.

„Gehen wir doch in mein Büro“, schlägt Gerlinde Schnell vor. Es ist frisch gestrichen. Kaffee und Gebäck warten schon auf dem kleinen Tisch. Seit sie ihr Parteibüro in der Stadt aufgegeben hat, arbeitet sie von zu Hause aus. „Ich will den Kontakt zu den Bürgern behalten.“

Denn dieser „neue Stil vom Umgang miteinander“, die feste Absicht, „niemanden mehr als Ausgegrenzten vor verschlossenen Türen“ stehen zu lassen, diese Hoffnungen waren es doch, die die zu DDR-Zeiten „parteilose Frau, die immer brav zur Wahl ging und weiß Gott keine Bürgerrechtlerin war“ 1989 ermutigten, die ostdeutsche SPD-Schwesterpartei SDP zu gründen. „Dafür sind wir doch '89 auf die Straße gegangen.“

An ihren Überzeugungen hat sich nichts geändert. Auch dann nicht, wenn Harald Ringstorff heute die Vokabeln „Versöhnung“ und „Gerechtigkeit“ bemüht, um sein umstrittenes Regierungsbündnis zu rechtfertigen? Sie kramt in alten Zeitungsausschnitten. Willy Brandt auf dem Greifswalder Marktplatz. Die Demonstration, ihre Demonstration, für den Erhalt der Kindertagesstätten. Der Straßenprotest „gegen 218“, und, „sehen Sie hier, da haben sie uns als Kindsmörderinnen beschimpft“. Die Feierlichkeiten für das erste Frauenhaus im Ort und Gerlinde Schnell, die Frauenpolitikerin, damals schon im Bundesvorstand des Arbeitskreises sozialdemokratischer Frauen, gut erkennbar in der ersten Reihe. Da endlich mag sie antworten. „Harald Ringstorff ist nach mir in die Partei eingetreten.“

Vielleicht, überlegt Bruno Schuckmann, hätten ihn auch seine Eltern geprägt. „Mein Vater war Tierarzt, meine Mutter verfügte über viele Westkontakte“. Als der Teenie Bruno bei einem Intelligenztest an seiner Schule mit seinem Wissen prahlt, daß Genscher der Außenminister der Bundesrepublik Deutschland ist, anstatt die Frage zu beantworten, wer denn der Außenminister der DDR sei, ist das Maß voll. Bruno fliegt von der Schule. Er lernt, Kühe und Schweine zu füttern. „Naja, ich war auch ziemlich faul“, räumt er ein.

Und überhaupt: „Wir waren keine Widerstandsfamilie, aber wir haben immer viel über Politik geredet zu Hause.“ Vor allem über die „kleinen Sauereien“. Wenn die Bohrmaschine, die die Verwandten aus dem „imperialistischen Ausland“ versprochen hatten, bedauerlicherweise nie in Schwerin ankam. Und wenn dann, ein paar Tage später, der Vater „unsere Nachbarn, die bei der Post arbeiteten, munter dübeln hörte“. Dieses „Unrecht“, Schuckmann klingt pathetisch, habe er „sehr frühzeitig“ erkannt. Anders als „der Ringstorff, gegen den hätten wir doch damals jede politische Diskussion gewonnen“. Wie kann er sich da so sicher sein?

Nach der Wende will Schuckmann „ändern, verändern“. Seinen Job auf dem Bauernhof aufgeben. Makler werden. Dazu will er Macht. Einfluß. Den einer Volkspartei beispielsweise. „Die SPD war mir zwar schon immer zu ideologiebehaftet.“ Doch immerhin bietet sie den Vorteil, im Parteinamen nicht „das hohe C“ zu führen, „Christliches gehört nicht in die Politik“.

Gerlinde Schnell redet wie ein Wasserfall. Daß sie sich weiter „bemühen“ wird, besonders um die Frauen, auch und gerade jetzt, als außerparlamentarische Parteilose. Als solche wird sie bei der Kommunalwahl im nächsten Juni möglicherweise antreten. Obwohl sie weiß, daß „Chancen nur Massenbewegungen und Bürgerinitiativen haben“. Also bloß niemals zuviel versprechen. „Politik hat etwas mit Moral, mit Glaubwürdigkeit zu tun.“

Plötzlich hält sie inne. Wie der Ringstorff eigentlich reagiert habe auf ihren Austritt? Der Blick verfinstert sich. „Was er sagte?“, sie stockt, „das einzige, was er sagte, war: 'Du hättest doch die Mitgliedschaft ruhen lassen können.' Aber das ist für mich ein Jein.“

Gerlinde Schnell sieht jetzt so zornig aus, daß man nur hoffen kann, nicht zufällig irgendeine Ähnlichkeit mit dem Ministerpräsidenten zu haben, die sie zu Ohrfeigen oder sonstwas provozieren könnte. Die Augen funkeln, die Stimme überschlägt sich. „Der Ringstorff hat überhaupt nicht begriffen, wie schwer mir das fällt“.

Sie schneuzt sich, ringt um Fassung, aber die Erinnerung hat sie längst eingeholt. Wie sie Mitte der 70er Jahre einen Reiseantrag stellte, als ihre Mutter, die als Rentnerin in den Westen ausgereist war, im Sterben lag. Und wie sie, Gerlinde Schnell, dann an der Grenze wegen vier nicht deklarierter Herrentaschentücher stundenlang mit dem Zoll stritt. Wie die Beamten ihren Trauerkranz zerpflückten. Sie wie eine Schmugglerin behandelten. Und wie sie dann, nach ihrer Rückkehr, „systematisch fertig gemacht“ wurde. Weil ihr, die immer eine „erfolgreiche Grundschullehrerin“ gewesen war, plötzlich unterstellt wurde, sie behandele die Kinder schlecht und müsse aus dem Schuldienst ausscheiden.

Auf dem Schulflur ist sie später zusammengebrochen. „Ich bin dann freiwillig in die Nervenklinik gegangen.“ Und heute, die Stimme bricht, „steht man vor diesen selben Leuten, die jetzt in der PDS sind, wieder als Bittsteller.“ Es tut gut, der angestauten Wut freien Lauf zu lassen. „Ich hätte eben nur nicht gedacht, daß man als Unbequeme, die der Parteiführung auch mal widerspricht, so schnell aussortiert wird bei der SPD.“

Der Immobilienmakler Bruno Schuckmann nimmt einen Schluck Kaffee. „Es gibt keinen großen Unterschied zwischen Links- und Rechtsextremen“, verkündet der dann. Als wolle er zweifelnde Kunden, die die von ihm gepriesene Wohnung doch nicht anmieten wollen, überzeugen, daß ein Fenster immer ein Fenster bleibt — egal, ob mit Blick gen Nord oder Süd. „Das endet in Arbeitslagern, wenn sie an die Macht kommen.“

Plötzlich beißt er sich auf die Zunge. „Naja“, schränkt er ein, „die von der PDS lehnen das heutige System ab, die wollen immer nur von der DDR quatschen“. Ein guter Grund, diejenigen zu verlassen, die sich das anhören mögen: „Die Zusammenarbeit mit der PDS wird die SPD schwächen.“

Macht es ihm denn gar nichts aus, der SPD nicht mehr anzugehören? Bruno Schuckmann zuckt die Schultern. „Eine Parteimitgliedschaft bedeutet auch immer Kompromisse.“ Ihm hingegen geht es mehr um das persönliche Fortkommen. Eine langjährige Eigenschaft, auch das. Vielleicht deswegen verfolgt er seit ein paar Wochen so konsequent einen konkreten Plan: die „sozialliberale Partei“.

So soll das Bündnis aus enttäuschten SPDlern und erfolglosen Liberalen heißen, das Schuckmann „noch vor Jahresfrist“ mit einigen Gleichgesinnten gründen und mit dem er die Kommunalwahl im kommenden Juni gewinnen will. Denn: „Ich habe keine Lust, der Dauerquerulant der SPD zu sein und ständig innerparteiliche Opposition zu machen.“

Er denkt nach. Dann, völlig unvermittelt und ohne Vorwarnung: „Wissen Sie, ich habe zu DDR- Zeiten wegen versuchter Republikflucht im Gefängnis gesessen.“ Und grinst auch noch.

Versuchte Republikflucht. Knast. Einzelhaft. Politische Verhöre. Todesangst. Die Bilder im Kopf entstehen unweigerlich, und Schuckmann benimmt sich so, als wolle er ein eher unwichtiges Detail in seinem Lebenslauf der Vollständigkeit halber noch schnell erwähnen. Wenn er von der Zelle im Untersuchungsgefängnis spricht, in der er gesessen hat, sagt er „Zimmer“. Das kann nicht sein, das nimmt man ihm nicht ab. Er windet sich. „Vielleicht hätte ich Ihnen das besser gar nicht erzählt.“

Irgendwann platzt es aus ihm heraus. Daß er „halt als 18-, 19jähriger in den Westen wollte“. Möglichst ohne Risiko. „Aber richtige Chancen hattest du nur, wenn du im Gefängnis warst, dir einen Anwalt nehmen konntest und irgendwann aus politischen Gründen abgeschoben wurdest.“

Mit einem Paddelboot begibt sich Bruno Schuckmann gezielt ins Grenzgebiet an der Ostseeküste. Doch die Wachposten, die ihn aufgreifen, halten ihn für eher ungefährlich. Beim zweiten Mal endlich klappt es. Schuckmann kommt ins Gefängnis - für mehr als ein Jahr. „Ich hatte am Ende sogar schon meinen Ausreisetermin“, sagt er. „Aber dann ist die DDR vor mir abgereist.“

Gerlinde Schnell bietet noch einmal Plätzchen an. „Ja, ich habe auch viel Zustimmung bekommen.“ Briefe „mit solidarischen Grüßen“. Von SPD-Freunden, aber auch „von Menschen, von denen ich noch nie was gehört hatte, und die von meinem Entschluß durch die Presse erfahren haben“.

Die Hände mit den lackierten Fingernägeln streichen die Tischdecke glatt. Ihr Blick schweift lange durch den Raum. Beim Anbringen der neuen Regale hat ihr Mann ein wenig geholfen. Ein praktischer Versuch, ihr die Aufräumarbeiten mit der Vergangenheit zu erleichtern.