■ Der Fall Öcalan macht die Kurden zum europäischen Thema
: Europa neu denken

Auf dem heute in Wien beginnenden Europagipfel werden die Chefs der 15 Mitgliedsländer sich auch mit Abdullah Öcalan beschäftigen müssen. Denn seit der Vorsitzende der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) in Rom gestrandet ist und Italien sich weigert, den Mann an die Türkei auszuliefern, ist das Schicksal der Kurden auch ein europäisches Thema.

Aber wo findet Europa eigentlich statt? Kein EU-Staat, weder Italien, Deutschland noch die Niederlande, will Öcalan auf Grundlage der eigenen nationalen Gerichtsbarkeit den Prozeß machen. Gleichzeitig wird die Idee eines europäischen Tribunals wohl mangels einer entsprechenden Institution scheitern. Italien würde den Mann und damit das Problem am liebsten abschieben. Doch wohin? Es geht nicht nur um die Frage, in welches Land Öcalan verfrachtet werden könnte. In der Person Öcalans bündeln sich zur Zeit nicht weniger als die Probleme Europas mit seinem südöstlichen Rand: Es geht um das Verhältnis zur Türkei und damit nicht nur um die Kurdenfrage, sondern auch um die Lösung des Zypernkonflikts und einer Regelung der anderen Konflikte zwischen der Türkei und Griechenland. Wird durch den Umgang mit dem PKK-Chef das türkisch-europäische Verhältnis nachhaltig geschädigt, dürfte eine friedliche Lösung aller drei Konfliktfelder auf lange Sicht sehr schwierig werden.

Die Türkei macht es den Europäern nicht einfach. Nachdem die Auslieferung Öcalans in Ankara zur wichtigsten nationalen Frage hochgespielt wurde, fällt es schwer, zur Vernunft zurückzufinden. Immerhin scheint im Verhältnis zu Italien ein erster Schritt gemacht. Die Tonlage zwischen den Regierungen ist nicht mehr so schrill. In der Sache sperrt sich die türkische Regierung jedoch gegen alle Vorschläge, die die Italiener bislang gemacht haben. In Ankara glaubt man nach wie vor, mit Unterstützung der USA die PKK als Terrororganisation und die kurdische Frage als interne Angelegenheit abtun zu können. Europäische Partner sind da nicht gefragt, das politische Denken in der Türkei orientiert sich an einer Auffassung vom Nationalstaat, die sich seit Gründung der Republik 1923 kaum verändert hat.

Eigene Vorschläge, wie nach 15 Jahren Krieg, für dessen Tote nun allein Öcalan die Verantwortung übernehmen soll, eine Befriedung der kurdischen Gebiete aussehen soll, gibt es nicht. Die Parteien sind im wesentlichen mit sich selbst beschäftigt. Die Regierung Yilmaz ist nur noch kommissarisch im Amt, die Bildung einer neuen Regierung nicht absehbar. Doch selbst wenn die nächste Übergangsregierung Platz nimmt, bis zu den Wahlen im April wird es keine Initiative zur Lösung der kurdischen Frage geben. Dazu bedürfte es eines starken Kabinetts und eines Ministerpräsidenten, der willens ist, das Militär von kulturellen und politischen Angeboten an die Kurden zu überzeugen. Eine solche Regierung ist nicht in Sicht. Alles, nicht zuletzt die wirtschaftlichen Probleme, deutet auf eine längere Phase neuer Instabilität hin.

Die deutsche EU-Präsidentschaft ab dem 1. Januar 1999 ist um die „Öcalan-Hypothek“ nicht zu beneiden. Trotzdem liegt gerade darin, daß auf die Frage „Wie weiter mit Öcalan?“ eine Antwort gefunden werden muß, auch eine Chance.

Europa ist nun gezwungen, sein Verhältnis zur Türkei zu klären. Jahrzehnte wurden die Beziehungen Europas zur Türkei in der Schwebe gehalten. Jetzt muß die EU sich entscheiden. Entweder die Türkei wird für immer draußen bleiben, oder man läßt sich ernsthaft auf den schwierigen Prozeß einer Integration der Türkei ein. Das erfordert eine langfristige Strategie, viel Geduld und Frustrationstoleranz. Das Ergebnis aber wäre nicht nur eine Rückkehr Europas ans östliche Mittelmeer, sondern auch die Basis für die Lösung der Konflikte auf dem Balkan. Jürgen Gottschlich