Die ganze Schönheit ist jetzt sichtbar

Frankreich wurde ohne Stürmer Weltmeister. Beim 2:0 über England hat man nun das fehlende Glied für ein wunderbares Team gefunden – Toremacher Nicolas Anelka  ■ Von Ronald Reng

London (taz) – Seinen ersten Arbeitstag als englischer Fußball- Nationaltrainer begann Howard Wilkinson um 5.30 Uhr – nicht ganz freiwillig. Das Klingeln des Telefons weckte ihn, ein Journalist wollte ein Interview. Spätestens so früh merkte Wilkinson (55), auf was für einen merkwürdigen Job er sich da eingelassen hat. Und als er am Mittwoch abend das erste Spiel hinter sich hatte, wollte der Trainer „erst einmal nach Hause fahren und darüber nachdenken“, ob er die Arbeit fortsetze.

Falls ihn seine Mannschaft zum Weitermachen zu ermutigen versuchte, so hat sie das am Mittwoch gut versteckt. 0:2 verlor England vor 74.000 Zuschauern im Londoner Wembleystadion gegen Weltmeister Frankreich in einem Testspiel, das den Briten eigentlich ein Gefühl von Aufbruch geben sollte. Eine Woche vor dem Match war Glenn Hoddle, der England wieder in der Weltklasse etabliert hatte, als Nationaltrainer entlassen worden; wegen religiösen Geplauders, mit dem er, so die allgemeine Interpretation, Behinderte beleidigt habe. Wilkinson, der Technische Direktor des englischen Fußballverbandes, übernahm.

Zunächst einmal provisorisch, aber mit der Aussicht, bei einem ansehnlichen Ergebnis das Engagement auszudehnen. Doch statt Aufschlüsse über Englands Zustand brachte der Abend die Erkenntnis, daß Frankreich das letzte fehlende Glied für ein wunderbares Team gefunden hat.

Weltmeister ohne einen guten Stürmer wurden die Franzosen im vergangenen Jahr. Das Team bestach durch seine defensive Organisation, vor allem im Mittelfeld, und lebte im Vorwärtsgang von der Inspiration des Zinedine Zidane. Doch wie so oft strandeten exzellente Spielzüge irgendwo im gegnerischen Strafraum, weil da keiner war, der vollendete, was Zidane und Partner begannen.

Frankreich hat auf einen wie Nicolas Anelka gewartet. Ein klassischer Torjäger, dank seiner Schnelligkeit wie geschaffen für das geschwinde Paßspiel des Mittelfelds. Beide Tore erzielte Anelka (19), der bei Arsenal arbeitet. Eigentlich waren es sogar drei, aber der Schiedsrichter sah nicht, daß Anelkas Schuß Anfang der zweiten Halbzeit von der Latte hinter die Torlinie sprang. „Na und, zwei Tore sind genug für ihn“, knurrte Frankreichs Mittelfeldspieler Emmanuel Petit mit gespielter Härte.

Wer Anelka vergangene Saison für Arsenal hat spielen sehen, wunderte sich, warum der damalige Trainer Aimé Jacquet nicht schon bei der WM 98 einen Platz für ihn fand. Das WM-Finale habe er noch nicht einmal im Fernsehen gesehen, erzählt Anelka. Er sei zu dem Zeitpunkt im Zug von Paris nach London gesessen. Ob das stimmt, ist eine andere Sache. Anelka ist ein Freak. Gerne vermittelt er den Eindruck, die Welt sei gegen ihn. Er kultiviert geradezu den Seelenschmerz. Bei Arsenal erschreckt er die Verantwortlichen regelmäßig mit Ausbrüchen, er habe keine Freunde in London, das Leben hier sei schrecklich, und Marc Overmars, Arsenals Flügelstürmer, gebe ihm nie den Ball. „Die Sprache ist ein Problem“, sagt Anelka etwa – in perfektem Englisch.

Wie er sich in Wembley in der zweiten Halbzeit mit Zidane sowie den beeindruckenden Außenstürmern Youri Djorkaeff und Christophe Dugarry verstand, machte sprachlos. So gut war es. Für die vielen in der Fußballszene, die Frankreich als wenig beeindruckenden Weltmeister geschmäht haben, war es der Zeitpunkt, Abbitte zu leisten: Alles, was gefehlt hatte, war einer, der den Zauber zum Abschluß bringt; mit Anelkas schnörkellosen Torschußqualitäten offenbarte sich die ganze Schönheit des französischen Spiels.

Howard Wilkinson kam zu der Erkenntnis: „Das ist keine Bolzplatztruppe.“ Ob er Englands Team weiter leiten wird, soll bis Anfang nächster Woche entschieden werden. Wilkinson würde trotz seines Zögerns wohl gerne weitermachen. Im großen und ganzen gefalle ihm der Job, sagte er. Auch wenn ihn beim Antritt des Postens seine Frau fragte, „ob ich noch ganz bei Trost bin. Aber das ist ja nichts Neues.“