Dieser Wald ist viel zu voll

■ Weiße Leinwand Sibirien: „Uhri – die Opfergabe“ ist nicht zuletzt eine filmische Danksagung an die Geheimnisse des äußersten Nordens

Was für die Intelligenz auf der einen Seite – in Paris etwa – die Angst vor dem weißem Papier ist, wurde auf der anderen Seite zur faszinierenden „weißen Wand“ – Sibirien als riesige Projektionsfläche. Selbst „Hollywood heads for Siberia“, vermeldete jüngst ein Film-Fachblatt. Während die einen wahre Horror-Szenarien von dort mitbringen: voller Kälte, Entbehrungen, Gulag-Resten, Altkommunisten, Mafiabanden, Umweltkatastrophen und Genozide, preisen die anderen Mensch und Natur, Baikalsee, Behring-Robben und Bodenschätze in den höchsten Tönen. Der Publizist Lothar Baier bedichtet den äußersten sibirischen Norden als „Arktisches Arkadien“, die FAZ titelt: „Sibirien ist eine deutsche Seelenlandschaft“.

Im Schnittpunkt all dieser Wunsch-Wahrnehmungen: „Nowosibirsk“, der geographische Mittelpunkt der ehemaligen Sowjetunion! Dieser noch immer real existierende Ort befindet sich westlich des Flusses Jenissei zwischen dem Öl- und Gaszentrum Nischniwartowsk im Südwesten und der Hafenstadt Dudinka im Nordosten. Er liegt am Fluß Tas im Heiligen Hain des kleinen Volkes der Selkupen. Hier beginnt der Film der Nenzin Anastasia Lapsui und des Finnen Markku Lehmuskallio. „Uhri – die Opfergabe“ unterscheidet sich wesentlich von den meisten anderen „Sibiriensia“ – erst einmal dadurch, daß die beiden Filmemacher es augenscheinlich nicht eilig hatten, schnell wieder in ihr gemütliches Zuhause zurückzukehren. Sie haben sich ordentlich Zeit genommen. Das klingt selbstverständlich, ist es aber (vor allem in Sibirien) nicht, zudem Lapsui auch nach diesem „film about a forest“ noch Wert auf die Feststellung legt, daß die Taiga – der Wald – für Tundra-Nenzen eigentlich beunruhigend und unheimlich ist.

Alle sibirischen Völker glauben an eine beseelte Natur, den Nenzen beispielsweise ist der Wald „zu voll“. Aber sogar die Taiga-Selkupen am Fluß Tas schützen ihren fest bebauten Sommerplatz mit einem Holzzaun vor Waldgeistern, sie wollen „raus“ aus Sibirien. Das Reinfinden dauert – und ist darüber hinaus ein dem Auge verborgener Vorgang. Denkbar schwierig für den Filmer also. Auch wenn er, wie Markku Lehmuskallio, weiß: „Wenn ich einen Moment filme, fühle ich, daß ich etwas Unsichtbares festhalte.“ Diese Schußversuche (im Englischen kommt das Filmen – Shooting – aus der Jägersprache) bedeuten, da es sich gezielt um eine Ethnographie von Jägern handelt, daß die Bild- und Tonschützen, die FilmemacherInnen, sich der Erfahrung einer „generationenübergreifenden Kontinuität“ vergewissern.

Immer wieder schauen sie dem Jäger und Fallensteller ins Gesicht und gucken, wie er in den Wald guckt, reinhorcht. Und so wie die Selkupen sich an ihren heiligen Plätzen für all das bedanken, was der Wald ihnen „gab“ – Elche, Auerhühner, Bären, Zobel, Hechte und andere Fische, dazu Beeren sowie Feuerholz – so ist auch dieser Film in gewisser Weise das Abtragen einer Dankesschuld: eine Gegen-„Gabe“, dessen einzelne Teile „Platzwechsel“, „Zivilisation“, „Freizeit“, „Eine Tragödie“ usw. heißen. Sie werden von Liedern zusammengehalten. Eins – über das Hosenflicken – singt die Selkupen-Mutter, während sie eine Hose flickt. Es geht so: „Ich lebe mit meinen leisen Liedern/ Mit leisen Liedern flicke ich die zerrissene Hose meines Sohnes/ Mein Sohn, der einem Schwan ähnelt/ Zerreißt immer wieder seine Hose/ So schnell, daß ich keine Worte dafür finde...“

Wir verstehen, was sie singt, aber was das Lied wirklich bedeutet, das wissen nur die Selkupen selbst – meint Markku Lehmuskallio. Es muß noch viel getan werden, um alle sibirischen Geheimnisse – wenigstens der Selkupen in der Mitte – zu verraten! Helmut Höge

Forum: heute, 19.15 Uhr, Arsenal, 13. 2., 12 Uhr, Akademie