Breitwandantwort auf Ameisenheitsfragen

Insektenanimation jetzt noch digitaler: Mit „Das große Krabbeln“ wehrt Disney alle Angriffe auf seine Marktführerschaft ab. Transvestitische Raupen und leichtlebige Schmetterlinge kommen zwar vor, werden aber an den Rand der Gesellschaft verwiesen  ■ Von Thomas Winkler

1995 schuf John Lasseter für Disney mit „Toy Story“ den ersten abendfüllenden, komplett computeranimierten Spielfilm in der Geschichte des bewegten Bildes. Drei Jahre später darf Lasseter mit „Das große Krabbeln“ zwar keine Geschichte mehr schreiben, aber immerhin seinen Arbeitgeber retten. Hatte doch DreamWorks, die Firma von Steven Spielberg, David Geffen und Jerry Katzenberg, mit „Antz“ ein Konkurrenzprodukt entworfen, das mit „Das große Krabbeln“ zwar die Computeranimation und vor allem die hauptdarstellenden Ameisen gemeinsam hatte, aber den Vorteil eines um einige Wochen früher gelegten Kinostarts.

Diesen Vorsprung kontert „Das große Krabbeln“ mit einem wahnwitzigen Aufwand: Zwei Jahre Vorbereitung mündeten schließlich in zwei Jahre Produktionszeit, in denen die 1.000 Prozessoren von Lasseters Produktionsfirma Pixar viermal so schnell arbeiteten wie die noch für „Toy Story“ verwendeten. Ein durchschnittliches Einzelbild benötigte trotzdem noch 15 Rechnerstunden. „Lichtjahre weiter als bei ,Toy Story‘, was die Komplexität angeht“, sei man inzwischen, sagt Lasseter.

Die größten technischen Schwierigkeiten im Gegensatz zu „Toy Story“ entstanden dadurch, daß das Setting des Films in der freien Natur gelegt war, wo es nur selten glatte Oberflächen und sich wiederholende Strukturen gibt. Immer noch stellt die Unregelmäßigkeit organischer Formen die Rechner vor die größten Kapazitätsprobleme. Während die Protagonisten in „Toy Story“ Spielzeugfiguren mit entsprechend eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten waren, mußten für „Das große Krabbeln“ auch Figuren mit weicher Konsistenz animiert werden. Das Breitwandformat schuf die Voraussetzung für die 430 Massenszenen, in denen schon mal 800 Ameisen gleichzeitig bewegt wurden. Die Filmemacher selbst verglichen ihr Werk denn auch begeistert mit „Lawrence von Arabien“.

Auch ohne diesen Anspruch eingelöst zu haben, war das Ergebnis aus der Sicht von Disney zufriedenstellend. Zwar hatte „Antz“ ein ordentliches Einspielergebnis vorgelegt, aber „Das große Krabbeln“ überflügelte den Konkurrenten trotzdem – und zementierte vorerst die Marktführerschaft des Kinder-Entertainment-Konzerns, der 80 Prozent aller Animationsumsätze weltweit einfährt. Die Technik-Oscars dürften mal wieder prasseln, und vielleicht fällt ja auch wieder einer für Randy Newman ab, der, wie schon für „Toy Story“, die Songs komponiert und gesungen hat.

Die Herausforderung „Antz“ wird mit einem Mehr an Action beantwortet. In Grundzügen erinnert die Geschichte von „Das große Krabbeln“ an Kurosawas „Die sieben Samurai“, sozusagen ein Remake auf Bodenniveau. Das mexikanische Dorf wird hier zum Ameisenhaufen, der alljährlich von einer Banditenbande aus extrem gruseligen Heuschrecken ausgeplündert wird, die so bedrohlich angeschwirrt kommen wie ein Hubschrauberkampfverband in einem Vietnam-Streifen. Durch ein Mißverständnis engagiert die um Rettung losgeschickte Ameise Flik anstatt der Krieger, die den heimischen Haufen verteidigen sollen, allerdings eine Truppe gerade gefeuerter Zirkusartisten. Nachdem die Individualisten und das straff organisierte Ameisenvölkchen den jeweils anderen Lebensentwurf studiert und voneinander gelernt haben, wirft man die jeweiligen Qualitäten zusammen, um gegen die Heuschrecken-Bedrohung vorzugehen.

Wo in „Antz“ die Seelennöte und die Großstadtparanoia der im Original von Woody Allen gesprochenen Arbeitsameise Z großen Raum einnahmen, beschränken sich die Selbstzweifel des Lasseter- Gegenentwurfs Flik auf seine meist mißlingenden Erfindungen. Flik steht in der Tradition von Daniel Düsentrieb oder Jerry Lewis' verrücktem Professor. Niemals würde er sein Dasein als austauschbare Ameise unter Millionen anderer Ameisen in Frage stellen. Die grundsätzlichen Ameisenheitsfragen, die Z mit einer verständnislosen Umwelt diskutieren wollte, bleiben unberührt.

Zwar beschimpft man sich fröhlich als „Ungeziefer“ oder „Parasit“, aber wie erwartet propagieren in „Das große Krabbeln“ selbst Insekten die in der Satzung festgeschriebenen konservativen Richtlinien des Disney-Konzerns. Während in „Antz“ Durchschnittsameise und Ameisenprinzessin ihre Odyssee gemeinsam erleben, zieht es den Ameisenjüngling in „Das große Krabbeln“ ganz klassisch allein und einsam in die Fremde, wo er zum Manne reifen soll. Zu Hause wartet derweil die Maid, um ihm nach seiner Rückkehr bewundernde Augenaufschläge zu schenken. Während die Prinzessin in „Antz“ selbst körperlich aktiv wird und den zaudernden Z raushauen muß, ist ihr Gegenstück in „Das große Krabbeln“ vor allem huldvoll und mädchenhaft. Der Nachwuchs wird mit Pfadfinderwerten erzogen. Mit dem männlichen Marienkäfer Franzi, der immer für ein Mädchen gehalten wird, und der fetten Raupe Gustl, die sich sehnlichst wünscht, ein Schmetterling zu werden, werden Cross-Dressing, Androgynität und Geschlechterverwirrung zwar thematisiert, aber ausdrücklich an die Ränder der Gesellschaft verwiesen.

Das fahrende Volk wird denn auch nicht für immer in den Ameisenhaufen aufgenommen, sondern geht weiter seiner zwar amüsanten, aber halt doch halbseidenen Profession nach, so daß die Ameisengesellschaft sauber bleiben kann. Auch der befreiende Aufstand der Massen wird hier nicht zur Revolution, sondern dient allein dazu, endlich in Ruhe so weitermachen zu dürfen wie immer. Der Diktator wird überrollt, ansonsten bleibt alles beim alten.

„Das große Krabbeln – A Bug's Life“. Regie: John Lasseter, Buch: Andrew Stanton, Donald McEnery & Bob Shaw. Deutsche Sprecher: Kai Wiesinger, Rufus Beck, Madeleine Stolze u.a., USA 1998, 90 Min.