Lügenkönigs Wanderjahre

■ Die Buchversion von Walter Moers' "Käpt'n Blaubär" belehnt das Weltkulturerbe. Von der Odyssee bis zum Computerspiel ist alles mit hineingedacht - zur Freude von Eltern und Kind

Walter Moers ist der berühmteste Comiczeichner Deutschlands. Für die einen liefert er anarchisch- prollig-lustigen Trash mit Sinn für den dezenten Tabubruch („Kleines Arschloch“, „Adolf die Nazisau“) für die anderen, nun ja: Humanismus pur. Käpt'n Blaubärs Abenteuer in der „Sendung mit der Maus“ bringen Eltern und ihre Kinder einander nahe. Das ist so ähnlich wie bei den Simpsons: Die Scherze für die Eltern sind so angelegt, daß sie das Sehvergnügen der Kinder nicht stören, die kindkompatiblen Blaubär-Abenteuer wiederum enthalten sich der Anbiederei an die Kinder und sind so auch für Erwachsene erfreulich. In der dialogischen Ausgangssituation der Käpt'n-Blaubär-Geschichten verwischen die Hierarchien: Kinder und Eltern können sich sowohl mit dem fröhlichen Seemannsgarn des Helden (den Moers „am liebsten umbringen“ würde, wie er vor drei Jahren schrieb) als auch mit seinen skeptischen, kleinen Zuhörern identifizieren.

60 Jahre nach dem von Walter Benjamin analysierten Tod des Erzählens hat das Erzählen im Kinderprogramm seine letzte Zuflucht gefunden. Ob sich Erfahrung hierin mitteilt, ist schwer zu sagen, zumal sich das, was man einmal mit Erfahrung meinte, verändert hat wie die Gesellschaft, die die Erfahrung verarbeitete; zumal die Erzählsituation – Püppchen erzählen Püppchen Lügengeschichten – dann doch eine andere ist als bei Lesskow oder E.T.A. Hoffmann, wenn der auch einen Kater aus seinem Leben erzählen läßt. Wie auch immer: Um mich neugierig zu machen, hatte eine sympathisch klingende Stimme des Eichborn Verlags am Telefon gesagt, in dem recht umfangreichen Erstlingswerk von Walter Moers, den 700 Seiten langen „13 1/2 Leben des Käpt'n Blaubär“, würde man einen ganz anderen Käpt'n Blaubär kennenlernen; einen Käpt'n Blaubär sozusagen für Erwachsene. Das machte mich tatsächlich neugierig, auch wenn ich nicht so genau wußte, worauf ich, außer auf Sex und Gewalt und gute Laune, nun hoffte.

Der Käpt'n Blaubär des Buches, der sozusagen die Vorgeschichte des Fernsehkäpt'ns erzählt, ist zwar keusch, aber tatsächlich ein anderer. Vor allem dadurch, daß er das Medium gewechselt hat. Das Bild aus dem Fernsehen schiebt sich zwischen Leser und den wild fabulierenden Ich-Erzähler. Blaubärs Puppenvergangenheit erschwert die Anteilnahme zumindest des Erwachsenen, der das Buch als Drehbuch für einen abendfüllenden Kinderfilm liest. Wenn man es Kindern vorliest, also selber in die Rolle Blaubärs schlüpft, mag es anders sein. Als ich klein war, gefiel mir Ottfried Preußlers Buchversion vom „Kleinen König Kalle Wirsch“ jedenfalls sehr gut.

In den ersten 13 1/2 Leben des Käpt'n Blaubär geht es wild zu: Seine Geburt in der vielfältigen Welt Zamoniens erinnert an Moses und die anderen Mythen von Religionsstiftern, die nicht wissen, wie sie ins Leben gekommen sind. „Meine erste Erinnerung ist, daß ich in rauher See trieb, nackt und allein in einer Walnußschale.“ Sympathische Zwergpiraten, die kaum zehn Zentimeter groß sind und mit Holzbein, Piratenhut und kleinen Eisenhäkchen anstelle von Händen auf die Welt kommen, retten den kleinen Blaubären. Ein Jahr lang lebt er unter ihnen. Die Zwergpiraten gebärden sich wild, auch wenn ihre Kaperversuche von den größeren Schiffen oft nicht einmal bemerkt werden.

In der kleinen, exklusiven Schule von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller, der über sieben Gehirne verfügt, lernt der Blaubär, was er so braucht. Seine weiteren Leben verbringt der Held unter gruseligen Klabautergeistern, die sich nachtnächtlich an seinen immer mehr perfektionierten Wein-, Heul- und Schluchzkünsten weiden, neben redseligen „Tratschwellen“, unter ekligen Kakertratten (einer interessanten Mutation aus Ratten, Kakerlaken und Tauben). Unterirdische Sandmänner, listige Kanaldrachen, kurzsichtige Rettungssaurier, Vampire, Skelette, kilometerhohe Bolloggs, herrschsüchtige Natifftoffen, grundboshafte Stollentrolle und ewig wandernde gimpfressende Gimps, die ein wenig an fahrende Hippies erinnern, kommen vorbei.

Vor allem die zunächst furchterregenden Daseinsformen sind gemeinhin netter, als sie anfangs erscheinen. Mal stolpert Blaubär in Löcher, die ihn in die 2364. Dimension führen, mal versinkt er im Ohrenschmalz eines Bolloggkopfes, wo er sich mit guten und schlechten Ideen unterhält, mal wird er von einem Tornado verschluckt. Am besten gefällt es ihm in Atlantis, der sozusagen anarchistisch-orientalisch-multikulturell-eklektizistischen Heimat seltsamster Phänomene und Lebensformen, in der er zum umjubelten Lügenkönig avanciert. Jedes seiner Leben endet mit einer Katastrophe und der höchst unwahrscheinlichen Rettung aus ihr.

Interessant sind Moers' Anleihen beim Weltkulturerbe. Beim Lesen denkt man an Michael Ende (vor allem an „Jim Knopf“), Douglas Adams, Tolkien, Swifts „Gullivers Reisen“, die Odyssee (wie Odysseus wird der kleine Bär am anspielungsreichen Beginn der Geschichte an einen Mast gebunden) oder auch an ein actionreiches, gut gezeichnetes Computerspiel. Als Erwachsener überlegt man sich manchmal, wie sich jemand fühlt, der einen Käpt'n-Blaubär-Roman schreibt. Kinder, denen man „die 13 1/2 Lebens des Käpt'n Blaubärs“ vorliest, werden vermutlich ihren Spaß haben und Ruhe geben.

Zur Zeit arbeitet Moers übrigens an Adolf II. Der Band mit den neuen Abenteuern des Diktators soll unter dem Titel: „Adolf baut noch mehr Scheiß“ erscheinen. Detlef Kuhlbrodt

Walter Moers: „Die 13 1/2 Leben des Käpt'n Blaubär“. Eichborn- Verlag. 720 Seiten mit ca. 200 Zeichnungen des Autors, 49,80 DM. Die Luxusausgabe in Blaubär-Kiste aus Buchenholz mit Brandzeichen, einer farbigen Landkarte Zamoniens und weiteren Überraschungen „für „Sammler und eingeschworene Fans“ kostet 298 DM. Eine Internet-Adresse zum Buch ( www.zamonien.de ) gibt es auch.