Samariter im Reich der tausend Wunden

Richard Pounds Untersuchungskommission tut sich schwer. Fünf Tage vor der großen Selbstreinigungskonferenz des IOC zeichnet sich ab, daß die Tendenz, Dinge zu lassen, wie sie sind, wohl ihre Fortsetzung finden wird  ■ Von Matti Lieske

Berlin (taz) – Richard Pound ist ein Freund markiger Worte, aber nicht unbedingt markiger Taten. „Wir wollen die Blutung am 17. März gestoppt haben, ein Tod durch tausend Wunden macht keinen Spaß“, sagt der Vizepräsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) über die Korruptionsaffäre, die seine Organisation seit Monaten beutelt. Doch die Empfehlungen, die Pounds Untersuchungskommission der am 17. und 18. März in Lausanne tagenden IOC-Vollversammlung unterbreiten wird, kommen allem Anschein nach eher einem notdürftigen Tackern der Wunden gleich.

Den Ausschluß von sechs Mitgliedern hatte die IOC-Exekutive im Januar beschlossen, seither gab es eine Vielzahl von neuen Beschuldigungen und Enthüllungen. Vor allem die vom Organisationskomitee der Winterspiele 2002 in Salt Lake City beauftragte Ethik- Kommission hatte belastendes Material zusammengetragen, das am Ende insgesamt 30 IOC-Mitglieder in den Verdacht des eklatanten Verstoßes gegen die Regeln des IOC brachte. Der Bericht der Pound-Kommission, dessen Fertigstellung sich seit einer Woche permanent verzögert, beläßt es jedoch im wesentlichen dabei, der Vollversammlung den Rauswurf der bereits genannten fünf IOC- Mitglieder nahezulegen – der Kenianer Charles Mukora ist inzwischen selbst zurückgetreten. Eventuell kommt noch Paul Wallwork aus Samoa hinzu, dessen Frau vom Präsidenten des Bewerbungskomitees in Salt Lake City, Tom Welch, ein Darlehen von 30.000 Dollar vermittelt bekam. Der Rest der insgesamt 19 Olympier, denen der IOC-Ausschuß Verstöße bescheinigt, wird vermutlich mit einer Verwarnung davonkommen, darunter auch der Australier Phil Coles, der in Athen Juwelen im Wert von mehr als 10.000 Mark annahm und in Utah mit seiner Familie bei Besuchen rund 70.000 Mark Kosten verursachte. Kavaliersdelikte à la IOC.

Höchstens verwarnt wird, Insiderberichten zufolge, auch der Südkoreaner Un Yong Kim. Der einstige treue Gehilfe der Militärdiktatur in seiner Heimat war bis vor kurzem einer der mächtigsten Männer im IOC und galt als potentieller Nachfolger des Präsidenten Juan Antonio Samaranch. Dem Südkoreaner wurde vor allem die Vaterliebe zum Stolperstein. Sein Sohn John erhielt in den USA einen gut bezahlten Scheinjob, der vom Bewerbungskomitee in Salt Lake City mit rund 100.000 Dollar finanziert wurde. Seine pianospielende Tochter Hae-Jung drängte Kim emsig den Orchestern der Bewerberstädte auf – zum Beispiel Berlin, Nagano, Melbourne, Salt Lake City – und versuchte, ihre Karriere als Musikerin auch auf andere Weise zu fördern. Auf seine Initiative wurde bei den Olympischen Spielen 1988 in Seoul eine koreanische Musikerin, die mit dem Moskauer Sinfonieorchester auftreten sollte, kurzfristig durch Hae-Jung ersetzt, bei einem Musik-Wettbewerb in Moskau versuchte Kim 1990 nach Recherchen eines US-Fernsehsenders, die Preisrichter zu bestechen.

Rätsel gab der Ethik-Kommission in Salt Lake City der Fall Ekaterina Soukhorado auf, welcher Kim ein Stipendium in Utah besorgte, für das die Bewerber 12.644 Dollar bezahlten. Später stellte sich heraus, daß der Vater der Russin ein Plattenlabel besitzt, das eine CD von Hae-Jung Kim herausbrachte. Purer Zufall, behaupten dreist die Anwälte des Südkoreaners. Der ehemalige Geheimdienstler ist ein erklärter Feind von Richard Pound, und dieser würde ihn liebend gern loswerden. Allein, er traut sich nicht. Kim hat angekündigt, gnadenlos zurückzuschlagen, und er dürfte genug interne Dinge über das IOC wissen, um diese Drohung entsprechend untermauern zu können.

Samaranch selbst hatte vor einiger Zeit die Linie vorgegeben, auf der sich das IOC bei der Bewältigung des Skandals bewegt. Von den zehn Mitgliedern, die noch nach der Erstellung des ersten Pound-Berichts im Januar belastet wurden, hätten nur „ein oder zwei Unregelmäßigkeiten begangen“, behauptete der 78jährige kühn, ohnehin seien die IOCler an den Skandalen um die Olympiakandidaturen nur zu 50 Prozent schuld. „Die anderen 50 Prozent fallen in die Verantwortung der Bewerberstädte, die immer aggressiver werden.“ Kein Wunder, denn das IOC tat nichts, um der „Geschenketradition“ (Pound) Einhalt zu gebieten. „Wir ermitteln nicht aufgrund von Gerüchten“, hat Samaranch erst kürzlich wieder gesagt, „sondern nur, wenn Beweise vorliegen.“ Fragt sich, wozu man noch ermitteln soll, wenn es ja schon Beweise gibt.

Als Gerücht betrachtete das IOC offenbar auch eine Beschwerde des Bewerbungskomitees von Toronto aus dem Jahre 1991. „Keine Sache ist so zum Mißbrauch geeignet wie Geschenke und andere materielle Zuwendungen an einzelne IOC-Mitglieder“, schrieben die Kanadier an Samaranch und wiesen daraufhin, daß bei zahlreichen Gelegenheiten relativ unverblümt „Bargeld, Juwelen und andere Dinge, die man leicht zu Geld machen kann“, verlangt wurden. Die Reaktion des IOC blieb aus, bei bloßen Gerüchten wird ja nicht ermittelt. Und wenn doch, wie derzeit durch die Pound-Kommission, beschränkt man sich im wesentlichen darauf, das zu bestätigen, was ohnehin schon herausgekommen ist.

Langsam zeichnet sich ein Bild ab, wie die IOC-Vollversammlung in der kommenden Woche verlaufen könnte: Ausschluß einiger Sündenböcke, Vertrauensvotum für Samaranch, eine leicht modifizierte Olympiavergabe, bei der die Mitglieder nur noch über zwei Städte abstimmen dürfen, und moderate Reformen bei der Besetzung des IOC. Die alte Praxis, seine Mitglieder selbst zu bestimmen, kann kaum ungebrochen fortgeführt werden. Insgesamt mehr ein Unter-den-Teppich-Kehren als die groß angekündigte Selbstreinigung. Man darf davon ausgehen, daß Politikern, Sponsoren und den wenigen internen Kritikern im IOC solch ein windelweiches Vorgehen kaum genügen wird, nachdem schon der Dopingkongreß im Februar unbefriedigende Ergebnisse gebracht hatte. Am Dienstag verabschiedete das französische Parlament ein schärferes Antidopinggesetz, weitere staatliche Eingriffe in die IOC-Hoheit werden folgen. Die Blutung ist noch lange nicht gestillt.