Rußlands Verbannungins Vorzimmer Europas

■ Die Erweiterung der Nato isoliert Moskau und zementiert seine Rolle als Außenseiter

Moskau (taz) – Reist der Russe nach Berlin oder Paris, begibt er sich auf den Weg „nach Europa“. Schon die Sprache nährt den Zweifel. Gehört Rußland dazu? Seit zwei Jahrhunderten liefern sich Intellektuelle und die politische Klasse hitzige Gefechte. Aus russischer Sicht gibt die Osterweiterung der Nato nunmehr eine unzweideutige Antwort. Europa endet an der Ostgrenze Polens und Tschechiens. Dazwischen liegt ein Cordon sanitaire von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer.

Geschichte wiederholt sich doch, von geringfügigen Abweichungen abgesehen. Die Leidenschaften, mit der sich die politische Elite noch im Vorfeld der Erweiterung vor zwei Jahren gegen das Heranrücken der Nato an die Westgrenze zu wehren versuchte, sind nüchternerer Betrachtung gewichen. Die wirtschaftliche Krise trug das Ihre bei. Innenpolitisch läßt sich das Thema überdies zur Zeit nicht instrumentalisieren.

Schon damals beherrschte es die Führungszirkel, während die Bevölkerung gleichgültig reagierte. Der Trend hat sich eher noch verstärkt. Doch endgültig vom Tisch ist das Problem damit nicht. Russische Militärs können die Kräfteverschiebung nicht ignorieren, die professionelle Ehre gebietet es schon, das Ungleichgewicht im Bereich der konventionellen Rüstung neuen Verhandlungen zu unterziehen. So überwindet die Osterweiterung nicht, wie im Westen behauptet, die Teilung Europas, sie modifiziert sie lediglich.

Man traut sich nur nicht, es offen auszusprechen, weil das unweigerlich eine Diskussion über die künftige Rolle und Struktur der Nato entfachen würde: Kommoder ist es da, ein instabiles Rußland und potentielles Reich des Bösen als Gegner aufrechtzuerhalten.

Die Angst vor Isolation und das Gefühl einer drohenden Gefährdung bereiten unterdessen leicht einer wirklichen „russischen Gefahr“ den Boden. Was Rußland bisher als Bedrohung empfand und nach außen abstrahlte, äußerte sich in einer eigenartigen Vermengung emotionaler und psychologischer Momente sowie begründeter sicherheitspolitischer Bedenken. Man bemühte sich nicht, den rationalen Kern herauszufiltern.

Moskau hat wenig Anlaß, sich wohl zu fühlen. Zu allem Überdruß kündigten nun auch Usbekistan, Aserbaidschan und Georgien an, den Vertrag über die kollektive Sicherheit in der GUS nicht zu verlängern. Moldawien, Turkmenistan und die Ukraine waren erst gar nicht beigetreten. Langfristig buhlen die Aussteiger auch um die Gunst der Nato. Wenn auch noch die Hilfskonstruktion der GUS zerfällt, wird die Angst, isoliert und umzingelt zu sein, zunehmen.

Können das Baltikum und die Ukraine im Ernstfall mit Schutz und Beistand rechnen? Wohl kaum. Nicht zufällig hat die Nato den Pufferstaaten die Zugehörigkeit zur westlichen Wertegemeinschaft vorenthalten. Das Zugeständnis an Moskau erweist sich unterdessen als Bumerang. Es gefährdet die europäische Sicherheit und zementiert die Rolle des russischen Außenseiters. Keinem ist damit gedient. Um dem entgegenzusteuern, wäre eine europäische Sicherheitsarchitektur vonnöten, die Rußland fest miteinbezieht.

Deutschland und Frankreich haben recht früh zumindest die Notwendigkeit erkannt. Langfristig ließe sich dazu die OSZE ausbauen, auch gegen Washingtons Vorbehalte. Damit kein falscher Eindruck entsteht: Die Interessen Ostmitteleuropas und Rußlands dürfen nicht wieder gegeneinander aufgerechnet werden. Sie müssen sich endlich gemeinsam denken lassen. Der imperiale Vormundschaftskomplex erleichtert das nicht gerade. Dennoch lehrt die Erfahrung, Kooperation zivilisiert. Die Zeichen weisen derzeit aber in die entgegengesetzte Richtung. Die Isolation schreitet voran und fördert Tendenzen der Selbstisolation. Nato- und EU-Erweiterung verbannen Rußland wieder ins Vorzimmer Europas. Buchstäblich: Schengen widerruft die Reise- und Bewegungsfreiheit, die der Westen als ideelle Waffe gegen den Kommunismus gezückt hatte. Klaus-Helge Donath