Kommentar
: Feindberührung

■ Durfte Gysi zu Milosevic reisen? Ja: Jeder darf sich blamieren, wo er will

Im politischen Geschäft sind Hände zum Schütteln da, auch wenn sie dem Kriegsverbrecher Slobodan Milošević gehören. Diese Geste Gregor Gysi, dem Besucher des jugoslawischen Staatschefs, zu verübeln, gehört zum Repertoire der Massenverdummung, dem wir jetzt 24 Stunden am Tag ausgesetzt sind. Natürlich hatte Gysi das Recht, auch nach Belgrad zu reisen, um sich zu informieren, Vorschläge zu ventilieren. Schließlich wird uns ständig versichert, wir sind nicht im Krieg mit Restjugoslawien. Er hat allerdings auch das Recht, sich zu blamieren. Und von diesem Recht hat er reichlich Gebrauch gemacht, in Belgrad wie in der Bundestagsdebatte des nächsten Tages in Bonn.

Gysis Problem besteht darin, die Vertreibung der Kosovo-Albaner wie auch den Luftkrieg der Nato ausschließlich juristisch zu sehen. Es reicht aber nicht aus, die Völkerrechtswidrigkeit der Luftangriffe anzuprangern und bei militärischen Aktionen auf dem UN-Mandat nach Kapitel VII der UN-Charta zu bestehen. Man muß schon dartun, wie Rußland und China für die notwendige Intervention im Kosovo zu gewinnen sind. Insofern hat sich Gysi in seiner Reiseadresse geirrt. Er bewegt sich, was den Wert auch vertraglicher Zusagen von Milošević anlangt, in einer selbstgewählten Dunstglocke der Ignoranz. Seine Ablehnung eines UN-Protektorats für Kosovo, den einzigen Weg wirksamen Minderheitenschutzes, entstammt der Welt der Staatensouveränität, dem Dogma der Nichteinmischung.

Insofern war der heftige Schlagabtausch zwischen Gysi und Fischer gestern im Bundestag erhellend. Es war ein weiterer Akt des Dramas, das die Linke seit den 30er Jahren schüttelt. Fischer hat das gespürt, als er das Nato-Bombardement mit der Hilfe für das republikanische Spanien in Verbindung brachte und, von der eigenen Rhetorik hingerissen, Milošević sein „No pasaran!“ entgegenschleuderte. Dieser Gegenangriff traf Gysi unvorbereitet. Er ist eben Juristensozialist.

Holen wir einmal tief Luft, und vergewissern wir uns, daß die Nato-Luftangriffe nicht die Lehre aus der ausgebliebenen Hilfeleistung des Westens für Spanien darstellen. Sie führten, wie voraussehbar, in die sperrangelweit geöffnete Sackgasse. Nehmen wir Fischers Friedensplan als stilles Eingeständnis des Irrtums. Auf zu Genossen Sjuganow, Gregor Gysi, Zeit für Überzeugungsarbeit! Christian Semler

Bericht und Gysi-Interview Seiten 4 und 5