Zeitreisen für den Großen Plan

Er schreibt utopische Romane, die in der Vergangenheit spielen, und gilt als Ideengeber für ganz reale Produktions- und Wohnprojekte. Jetzt stellt der Zürcher Schriftsteller P. M. seine futuristische Mittelaltertrilogie „Die Schrecken des Jahres 1000“ vor  ■ Von Klaus Farin

„Regen! Scheißmittelalter. Nicht mal das Jahr wissen die hier genau. Scheißjob! Ritter Ende des 10. Jahrhunderts – nie wieder!“ Rodulf von Gardau hat soeben erfahren, daß er Land, Burg und Einkommen verloren hat, wie viele in jenen feudalistischen Tagen der letzten Jahrtausendwende. Doch der kleine fränkische Ritter kennt auch die Ursachen, denn er ist zugleich ein Zeitreisender, ein Agent der „Firma“.

Unsere Vergangenheit, so die höchst originelle Plot-Idee in P. M.s prächtiger Mittelalter-Trilogie „Die Schrecken des Jahres 1000“, ist kein unter der Verantwortung lebender Akteure entstandenes Ereignis, sondern die Inszenierung eines gigantischen kapitalistischen Zukunftskonzerns, der die Menschen mit Hilfe von Tausenden AgentInnen, die in allen Zeitaltern Schlüsselpositionen besetzen, gemäß dem „Großen Plan“ steuert. Rodulf ist einer dieser Agenten, doch seine Unzufriedenheit treibt ihn in den Sog einer revolutionären Erhebung von Bauern, städtischen Frühproletariern und intellektuellen Klerikern gegen Großadel, Kaiser und Kirche, die wie ein Wirbelsturm von Franken ausgehend bald die ganze Erdkugel überziehen wird.

„Ihr macht Euch keine Vorstellung vom Schaden, den diese Entgleisung angerichtet hat“, grollt Rodulfs Einsatzleiter. „Knechte, Sklaven und Halbfreie laufen ihren Herren scharenweise davon. Bischöfe haben alle Hände voll damit zu tun, millenaristische Ketzer zu verbrennen. Obszöne Lieder, in denen Lebenslust und Selbstversorgung verherrlicht werden, zersetzen Sitte und Gehorsam. Technisch wird mit Luftschiffen, ökologischer Bauweise, biologischem Landbau, Recycling, Wasserkraft experimentiert. Dinge, die wir erst am Ende des nächsten Jahrtausends zulassen werden. Medizinisch geht es noch unerhörter zu. Uralte Verhütungs- und Abtreibungsmethoden werden angewandt, Kräuterheilkunde blockiert den medizinischen Fortschritt. Glaubt Ihr, wir können die Leute noch zur Entwicklung zwingen, wenn sie sich rundum so wohl fühlen?“

Der Konzern versucht, mit einer Radikalkur wieder Herr der Lage zu werden: Er streicht das Mittelalter aus dem Plan. „Die Geschichte, so wie wir sie geplant hatten, kann nicht stattfinden. Wir überspringen das Mittelalter und nehmen direkt das 19. Jahrhundert in Angriff. Was Ende des nächsten Jahrtausends in der Dritten Welt geschieht, ist nun das Krisenprogramm für Europa.“

Ob sich die Bauern durchsetzen oder der Konzern die Kontrolle zurückerobert oder gar die proletarische Kadertruppe die Macht an sich reißt, die gegen Ende des ersten Bandes brutal ins Geschehen eingreift, bleibt bis zum dritten Band der Trilogie offen. Denn zwischendurch entführt es Rodulf in die Weltgeschichte. In Band 2 nämlich läßt P. M. seinen Zeitreisenden Rodulf eine aufregende Exkursion in den arabisch-afrikanischen Kulturkreis unternehmen. Er wird von Beduinen gekidnappt und landet als Sklave bei einem westafrikanischen Herrscher (natürlich auch ein Konzernagent), der auf seine Art gegen die Firma opponiert: „Meinst du im Ernst, wir wollen zum Armenhaus und Abfallhaufen werden, wie die Firma sich das vorstellt? Nein, ich werde das Steuer herumreißen. Schwarz statt weiß.“

Doch auch in Afrika existiert ein revolutionärer Untergrund, der mehr will als einen schwarzen Despoten. Während unter ihm der offene Aufstand ausbricht, entschwebt Rodulf in einem Fesselballon in die Freiheit – um schließlich im dritten Band in Lateinamerika zu landen. Auch dort gestaltet sich die Welt bereits anders, als von der Geschichte vorgesehen ...

Seit zwei Jahrzehnten befaßt sich der „Züri“-Aktivist P. M. (ein Pseudonym, ausgewählt nach den häufigsten Anfangsbuchstaben im Zürcher Telefonbuch) mit lebbaren Utopien, demokratisch-anarchistischen Gesellschaftsmodellen jenseits jener staatsautoritären oder patriarchal-technokratischen Modelle, wie sie Utopisten von Morus über Bellamy bis Callenbach entwarfen. Aber glücklicherweise ist P. M.s Werk auch kein Heileweltkitsch für linksalternative Couch Potatoes: Auch in den von Geld- und Adels-Hierarchien befreiten Zusammenhängen tobt bisweilen der erfrischende Kampf der Geschlechter, die Rivalität der Praktiker und Intellektuellen.

1983 erschien „Bolo'bolo“, eine utopisch-realistische Anleitung für eine Welt ohne Geld in autarken Lebensgemeinschaften, die ihre materiellen Grundbedürfnisse mit drei bis vier Stunden Arbeit täglich gewährleisten können. Mehrere alternative Wohn-, Produktions- und Dorfgemeinschaften in Zürich, Berlin oder Kassel zeugen von den Versuchen, das zum Kultbuch avancierte und in acht Sprachen übersetzte „Bolo'bolo“ in die Realität umzusetzen.

In Zürich begannen vor zehn Jahren die Planungen zum Projekt „KraftWerk 1“, dessen praktische Realisierung in diesem Jahr startet: ein Produktions- und Wohnprojekt mitten in der Stadt, in dem rund siebenhundert Menschen leben und arbeiten und sich im Austausch mit Bauernhöfen der Region selbst versorgen wollen. Gemeinschaftseinrichtungen wie Bäder, Werkstätten, Freizeit- und Bildungsstätten sollen für alle geldlos zu nutzen sein. In Berlin, Brandenburg und Hessen werden ebenso verschiedene Modelle der Vernetzung von Großhaushalten auf der Grundlage von P. M.s Ideen vorangetrieben. Eine wohl recht einmalige Wirkungsgeschichte für einen Schriftsteller der Gegenwart.

Die Gewänder, in die er seine Utopien hüllte, befriedigten literarische Grundbedürfnisse in der Vergangenheit allerdings nur marginal. Darin unterscheiden sich „Die Schrecken des Jahres 1000“ von den früheren Versuchen. Die durch den geschickten Plot ermöglichten Einbrüche der Zukunft in das Geschehen, etwa wenn Rodulf sich an Woodstock erinnert oder Marx zitierend die Wirtschaftslage seziert, verleihen dem Werk einen feinen Humor; eine clever konstruierte Traumblende schickt den vorausdenkenden Leser auf überraschende Irrpfade; der Clou, den Deserteur Rodulf von der Firma entführen und zur Mitarbeit als Tribun erpressen zu lassen, gestattet einen Perspektivensprung von der agrarischen Revolutionsgemeinde in den inneren Kreis der zynischen Machthaber. Offenbar hat P. M. hier erstmals viel Zeit und Energie verwandt, um ein wirklich literarisches Werk zu erschaffen.

P. M.: „Die Schrecken des Jahres 1000“ (Band. 1), 312 S., 36 Mark. „Kumbi“ (Band 2), 272 S., 36 Mark. „Pukaroa“ (Band 3), 583 S., 47 Mark, alle Rotpunktverlag, Zürich.

Am Freitag, den 11. Juni, liest P. M. um 20 Uhr im Familiengarten, Oranienstraße 34, aus „Von der Notwendigkeit, die Geschichte zu ändern ...“, und tags darauf um 18 Uhr in der Phantastischen Buchhandlung UFO, Bergmannstraße 25, aus „Die Schrecken des Jahres 1000“

„Die Geschichte, wie wir sie geplant hatten, kann nicht stattfinden. Wir überspringen das Mittelalter.“