Das Land, das seine Kinder frißt

Verräter, Stierkämpfer und Ideologen: „Das Magische Labyrinth“, Max Aubs Romanzyklus über den Spanischen Bürgerkrieg, erscheint jetzt auf deutsch  ■ Von Leopold Federmair

Handelsvertreter ist ein schöner Beruf. Man lernt Land und Leute kennen, hat ein sicheres Einkommen, und daneben bleibt auch noch Muße für geistige Vergnügungen. Als Max Aub nach dem Abitur zu Beginn der zwanziger Jahre eine Entscheidung über sein künftiges Leben zu treffen hat, schlägt er den Rat seines Vaters aus: Er geht nicht an die Universität. Statt dessen bereist er die Dörfer und Städte der spanischen Mittelmeerprovinzen zwischen Figueras und Almeria, er begleitet seinen Vater und übernimmt später dessen Geschäft. Die Erfahrungen, die er dabei macht, bilden das Substrat seiner späteren Romane und Erzählungen, die von Figuren und örtlichen Milieus, von regionalen und individuellen Spracheigentümlichkeiten, von Dialogen und Diskussionen nur so überquellen.

Max Aub wurde 1903 in Paris als Sohn einer Französin und eines Deutschen geboren; beide Eltern waren jüdischer Herkunft. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, befand sich der Vater gerade auf Geschäftsreise in Spanien. Die Rückreise nach Paris war nicht ratsam, und so ließ sich die Familie in Valencia nieder. Der junge Max Aub scheint sich ohne Schwierigkeiten in die neue Umgebung eingefügt zu haben. 1915 schrieb er sein erstes Gedicht – auf spanisch. Das Sprachbewußtsein, das sein gesamtes Werk, auch das politisch engagierte, prägt, dürfte hier seine Wurzeln haben. Der Spätankömmling bedient sich der Wörter nicht mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie die anderen, die in die Sprache Hineingeborenen. Aub bewahrt sich noch als reifer Autor etwas vom Blick des Fremden, der einen Überschuß an Aufmerksamkeit, Neugier und Staunen bereithält.

Andererseits bleibt fast sein gesamtes, gewaltiges Werk auf Spanien bezogen, auch nach der zweiten Exilierung als Folge des Spanischen Bürgerkriegs. Erst 1969 konnte Aub aus dem mexikanischen Exil nach Spanien zurückkehren. Es hielt ihn nicht lange. Bei den im Lande verbliebenen Intellektuellen und den franquistischen Behörden stieß er auf wenig Gegenliebe. Das Reisetagebuch, das er nach seiner Rückkehr in Mexiko veröffentlichte, trägt den bezeichnenden Titel Das „blinde Huhn“.

Das Frühwerk Aubs steht ganz im Zeichen der europäischen Avantgarde, die er wie viele spanische Künstler und Dichter dieser Zeit begierig aufnahm. In den Jahren der Zweiten Spanischen Republik begann er sich davon zugunsten einer stärker dokumentarischen Erzählliteratur und eines mehr in die gesellschaftlichen Prozesse eingreifenden Theaters zu lösen. Der kurze Roman „Luis Álvarez Petreña“, der 1934 erschienen ist, beschreibt den Weg eines avantgardistischen Schriftstellers, der an der Inhaltsleere seines Schaffens verzweifelt und schließlich Selbstmord begeht.

Der Roman ist allerdings selbst nicht frei von jenen literarischen Verfahren, die mit der von Aub kritisierten Einstellung zu Kunst und Leben verbunden sind. Bis zuletzt bewahrt sich Aub in seinem Schreiben eine Lust am Experiment, die sich im Wortspiel ebenso niederschlägt wie im Spiel mit Fiktion und Wirklichkeit.

Der 1958 erschienene Roman „Jusep Torres Campalans“, der seinem Autor internationale Berühmtheit einbrachte, ist die fiktive Biographie eines katalanischen Künstlers, der angeblich wirklich gelebt hat. Das Buch ist mit Reproduktionen der Werke dieses vorgeblichen Weggefährten Picassos und anderer Kubisten versehen, und in einer mexikanischen Buchhandlung fand sogar eine Ausstellung der „Originale“ statt. Selbst Kunstkritiker hielten die Fiktion damals für wirklich.

Das Hauptwerk Aubs ist der sechsbändige Romanzyklus der Campos, die zusammen mit einer Reihe von Erzählungen „Das Magische Labyrinth“ bilden. Alle diese Werke kreisen um das Thema des Spanischen Bürgerkriegs, sie sind jedoch in sich geschlossen und haben meist auch verschiedene Hauptfiguren.

Der erste dieser Romane, den Aub kurz nach seiner Exilierung in Paris schrieb, spielt im Jahr 1936 in Barcelona; sein Handlungskern ist die Niederschlagung eines falangistischen Aufstands durch die Kräfte der Republik. Die weiteren Romane haben entscheidende Episoden des Bürgerkriegs zum Gegenstand. Schauplätze sind Madrid, Valencia, Alicante, Teruel, wo die Republikaner im Winter 1937/38 eine Schlacht gegen das franquistische Heer gewannen, oder das Dorf Viver de las Aguas. Der letzte Roman des Zyklus schildert die Flucht der Republikaner nach dem verlorenen Krieg, die für einige der Figuren (wie für Max Aub selbst) im französischen Konzentrationslager Vernet endet. Alle sechs Bände sollen nun nach und nach in deutscher Übersetzung im Eichborn Verlag erscheinen – der letzte im Herbst 2002.

Die Stierkampfsymbolik, die Aub in „Nichts geht mehr“ wiederholt aufnimmt, ist nicht überraschend; man stößt bei vielen spanischen Autoren und Künstlern des zwanzigsten Jahrhunderts darauf. Auch die Verbindung von Stier und Labyrinth findet man unter anderem bei Picasso; sie geht zurück auf den „Minotauros“ der griechischen Mythologie. Aub realisiert in allen seinen großen Erzählwerken eine Ästhetik des Labyrinthischen. Die Geschichten, die in Aubs Romanzyklus mehr besprochen als erzählt, mehr gezeigt als beschrieben werden, haben kein vereinheitlichendes Thema.

Die Figuren kommen oft nur flüchtig miteinander in Berührung, tauchen auf, verschwinden wieder. Es fällt schwer, zwischen Haupt- und Nebenfiguren zu unterscheiden. Durch das Labyrinth zieht sich nicht ein einzelner Ariadnefaden, sondern der Faden, irgendein Faden, wird aufgenommen, fallengelassen, wiederaufgenommen. Der Minotauros ist Spanien, das Land, das seine Kinder frißt. Das Untier ist in der Mitte, aber die Mitte ist überall.

Einige Motive kehren wieder, und vielleicht läßt sich sogar ein Leitmotiv ausmachen, nämlich das des Verrats. Rafael Serrador, die „Hauptfigur“ in „Nichts geht mehr“, ist vom Bild des Verräters besessen. Er tötet ein Mädchen, das die Anführer der Linken bei der Polizei denunziert. Später betätigt er sich selbst als Spion und läuft prompt auf die andere Seite über: ein Held, mit dem sich weder der Autor noch der Leser identifizieren kann; ein Schwankender zwischen entgegengesetzten, einander doch sehr nahen Radikalismen.

Aub schrieb viel für Theater, war selbst an Inszenierungen beteiligt. Schon in Spanien, noch mehr aber in Mexiko arbeitete er in der Filmbranche, verfaßte und übersetzte Drehbücher, bekleidete einen Lehrstuhl für Filmtheorie und Filmtechnik. Auch seine Romane leben über weite Strecken vom Dialog. Die Erzählsituationen werden oft nur kurz angedeutet, um die Figuren sogleich miteinander sprechen zu lassen. Der Schnitt, der übergangslose Wechsel, auch die Gleichzeitigkeit von Szenen, die an verschiedenen Orten spielen, oder das plötzliche Flashback sind Techniken, die aus der Filmkunst stammen und im literarischen Erzählen fruchtbar werden. „Nichts geht mehr“ zeigt ein politisches und soziales Panorama. Der Roman umfaßt das große Ganze, um dann übergangslos auf irgendein Detail zu zielen. Großaufnahme und Nahaufnahme werden in schnellem Rhythmus gegeneinandergesetzt; auch das kennt man aus dem Film.

Manch ein Leser wird die hitzigen Gespräche der „Tertulias“, der politischen und literarischen Zirkel, ermüdend finden. Ich gehöre nicht zu ihnen. Gewiß, dieser ideologische Eifer gehört einer anderen Zeit an. Leute, die einem bei jeder Gelegenheit letzte Wahrheiten und große Lösungen (oder Erlösungen) aufdrängen, empfindet man heute als lästig. In Aubs Romanzyklus wimmelt es von solchen Leuten. Sie haben, als Masse wie als Entscheidungsträger, weithin das 20. Jahrhundert bestimmt und das Ihre dazu beigetragen, daß es ein schreckliches wurde. Was Historiker im Rückblick als „Zeitalter der Extreme“ oder als „Zukunft einer Illusion“ bestimmt haben, vermitteln Aubs Bürgerkriegsromane aus der Gegenwart heraus – nicht nur, weil sie unter dem Eindruck frischer, unvernarbter Erfahrungen geschrieben wurden, sondern weil ihr Erzählmodus der des Präsentischen, des unmittelbar sich Ereignenden ist. Keine Spur von einem „raunenden Beschwörer des Imperfekts“. Die Zeit, also die Gegenwart, schreibt sich bei Aub gleichsam von selbst, mit fliegender Feder, im Federflug, vuelapluma, wie es im Roman mit einem der vielen ungewöhnlichen Wörter heißt.

Das Beunruhigende der ideologischen Gärung, die uns Aub vorführt, ist die Nähe der Extremismen, die manchmal bis zur Austauschbarkeit geht. Das Beunruhigende ist die Gewaltbereitschaft auf allen Seiten, die Heilserwartung, die man der Gewalt als solcher entgegenbringt, und die Idealisierung einer quasi soldatischen Lebensführung, der Eingliederung des Individuums in ein rechts- oder linksrevolutionäres Heer, die an die von Ernst Jünger beschriebene idealtypische Figur des „Arbeiters“ denken läßt. Nicht nur durch die berichteten Fakten, sondern ebenso durch die Vermittlung einer Gesprächskultur und eines Lebensgefühls, das seinerzeit nicht nur in Spanien verbreitet war, besitzen die Romane des „Magischen Labyrinths“ großen dokumentarischen Wert.

Max Aub: „Nichts geht mehr. Das Magische Labyrinth 1“. Roman. Aus dem Spanischen von Albrecht Buschmann und Stefanie Gerhold. Herausgegeben und kommentiert von Mercedes Figueras. Eichborn, Berlin 1999, 320 Seiten, 49,80 DM Im September erscheint „Theater der Hoffnung. Das Magische Labyrinth 2“. Roman. Aus dem Spanischen von Albrecht Buschmann und Stefanie Gerhold. Eichborn, Berlin, 544 Seiten, 59,80 DM