Flammende Reden vor leeren Bänken

Engagierte EinzelkämpferInnen können im Europaparlament viel bewegen, weil die Fraktionsgrenzen nicht so scharf sind. Doch nötig sind ein langer Atem und Geduld für die mühselige Kleinarbeit  ■   Aus Straßburg Daniela Weingärtner

Es ist halb elf Uhr abends. Hiltrud Breyer geht zur Arbeit. Gerade hat sie ihre zweijährige Tochter Constanze im Abgeordnetenbüro ins Reisebettchen gelegt. In dem kleinen Raum türmt sich Kinderspielzeug. Auf einem Aktenstapel steht ein angebrochenes Gläschen Babynahrung, pestizidfrei, von einem deutschen Hersteller. Auf der schmalen Liege wird die Oma aufpassen, bis ihre Tochter aus der Plenardebatte zurückkommt.

Die Gänge sind um diese Zeit ausgestorben. Auch auf der Pressetribüne sitzt niemand. Nur die Kameras bewegen sich ferngesteuert, wie von Geisterhand. Die dritte Lesung zur EU-Verordnung über diätische Lebensmittel findet unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Ein Vertreter des Parlamentspräsidenten leitet die Sitzung. In der tieferliegenden Stuhlreihe vor ihm, die für die Kommission vorgesehen ist, sitzt Industriekommissar Martin Bangemann allein. Im Halbrund des Plenums 623 leere Sitze, dazwischen die Dänin Ulla Sandbæk als Berichterstatterin, Peter Liese von den Christdemokraten und Hiltrud Breyer.

Sie richtet einen flammenden Redebeitrag an die leeren Sitzreihen: „Säuglings- und Kleinkindnahrung muß frei sein von jeglichen Giftstoffen. Hier dürfen wir uns wirklich nicht auf den kleinsten gemeinsamen Nenner harmonisieren ... Wir hoffen, daß das jetzt Ausgangspunkt ist für die gesamte Nahrung, insbesondere für Schulkinder und Jugendliche ...“

Martin Bangemann antwortet mit der sarkastischen Bemerkung, Frau Breyer wolle heute die Babys schützen, morgen die Schulkinder, dann die Heranwachsenden in der Pubertät. „Ab den Vierzigjährigen fängt dann wieder dasselbe Dilemma wie bei den Babys an ... Frau Breyer, auf diesem Weg wird die Kommission Sie nicht begleiten.“

An Sarkasmus ist die grüne Abgeordnete gewöhnt. An flammende Reden vor leeren Bänken auch. „Verbraucherthemen werden in die Nachtsitzung abgeschoben“, weiß sie aus fünfjähriger Parlamentserfahrung. Nicht wenige Rückschläge hat sie in dieser Zeit einstecken müssen: 1995 zum Beispiel hatten 350 grüne Briefe und zahlreiche Gespräche mit den großen Fraktionen dazu beigetragen, daß die Genpatentierungsrichtlinie in Straßburg durchfiel. Ein großer Triumph. Aber dann machten die Lobbyisten mobil – neun Monate später war die Richtlinie durch.

„In Brüssel habe ich gelernt, daß Lobbyarbeit kein Schimpfwort ist“, sagt Hiltrud Breyer. „Wenn in Brüssel ein Gesetz geplant wird, verlagern die betroffenen Konzerne die Lobbyarbeit sofort dorthin, weil die Brüsseler Regelung Grundlage für nationale Gesetze ist.“ Aus den gleichen Gründen glaubt auch Hiltrud Breyer, daß sie im Europaparlament gerade bei ihren Spezialthemen mehr ausrichten kann als im Deutschen Bundestag.

Engagierte EinzelkämpferInnen können in Brüssel und Straßburg eine Menge bewegen. Die politischen Gegensätze verlaufen nicht so eindeutig an Fraktionsgrenzen entlang wie in den nationalen Parlamenten. Vielmehr werden sie überlagert von regionalen Bündnissen und den Länderinteressen. „Ich habe immer persönlich etwas erreicht, wenn es mir gelungen ist, eine große Fraktion auf meine Seite zu ziehen.“ Zum Beispiel bei der pestizidfreien Babynahrung. Da hat sie den Kollegen Peter Liese gefragt, ob er auf EU-Ebene wirklich eine Regelung kippen wolle, die in Deutschland längst Standard sei. Und was die Presse wohl dazu sagen würde ... „In Brüssel muß man glaubhaft machen, daß man öffentlichen Druck erzeugen kann“, hat Hiltrud Breyer erfahren. Sie kandidiert zum dritten Mal, die Partei honorierte ihre Fleißarbeit im Dienst der Verbraucher mit einem sicheren dritten Listenplatz – vorausgesetzt, die deutschen Grünen schaffen es trotz Wählerenttäuschung über die grüne Kosovo-Politik überhaupt wieder ins Parlament.

Als verheerend erlebt Breyer diesen Europawahlkampf. Leere Säle, lustlose Debatten und an den Straßenständen der Partei nur ein Thema: Kosovo. Wohl wüßten die Wähler zu schätzen, daß ihre Verbraucherinteressen in Brüssel verteidigt werden. Aber das Bedürfnis, die Partei für ihre Kriegspolitik abzustrafen, sei stärker.

Mit solchen innenpolitischen Komplikationen muß sich die spanische Abgeordnete Barbara Dührkop nicht herumschlagen. Für die Sozialistin wird es die vierte Legislaturperiode werden. Die sorbische Adoptivtochter schwedisch-deutscher Eltern sitzt für Spanien im Europaparlament. Ihr spanischer Ehemann wurde 1986 von der ETA ermordet. Seit 1987 führt sie das Zigeunerleben einer Europaabgeordneten, pendelt zwischen Brüssel, Straßburg und San Sebastian, wo ihre vier Kinder aufwachsen. „Eine Plagerei“ sei es, sich nach Straßburg durchzuschlagen, seit der Spezialflieger aus Kostengründen abgeschafft sei. Nun fährt sie einmal im Monat mit dem Auto nach Biarritz, fliegt von dort aus nach Paris und weiter nach Straßburg.

Absurd findet Barbara Dührkop, daß dieses Parlament seinen eigenen Arbeitsort nicht bestimmen kann. Daß aus Proporzgründen einmal im Monat der Brüsseler Papierkram in Blechkisten verstaut werden muß und freitags in Lastern nach Straßburg gebracht wird, wo er am Montag der Sitzungswoche von den Abgeordneten ausgepackt wird. Ein Mitarbeiter des Büros, das ohnehin nur aus zwei Assistenten besteht, muß in Brüssel immer die Stellung halten, um fehlende Papiere herauszusuchen und an den Tagungsort hinterherzuschicken.

„Coeur d'Europe“, mokiert sich die spanische Abgeordnete über Straßburgs City-Werbung. Die Verkehrsanbindung jedenfalls spreche dem Werbespruch Hohn: „Ein Nordschwede fliegt bis Stockholm. Dann weiter nach Frankfurt. Von dort hat er noch mal zwei Stunden Autobahn bis hierher. Und schläft auf der Liege im Büro, weil die Hotels mal wieder ausgebucht sind. Und wenn er dann am Donnerstag wieder abreist, empört sich die Presse. Dabei kommen viele am Freitag gar nicht mehr weg von Straßburg.“

So hört es sich an, wenn jemand seinen Traumarbeitsplatz beschreibt. Denn Barbara Dührkop ist trotz des ganzen Ärgers begeistert von ihrem Job: „Das ist die interessanteste Uni, die ich je erlebt habe. Man soll sich nicht vormachen, daß man groß was bewegen kann. Aber dabeizusein, wenn Europa gebaut wird – das ist ein Privileg.“

Wie Hiltrud Breyer erinnert auch sie sich an Gesetzesinitiativen, die eben doch eine Menge bewegt haben. Ihr Spezialgebiet ist die Sozialpolitik. Die Debatte im Frauenausschuß, als es um den Elternurlaub ging, wird sie nicht vergessen. Die Kommission hatte ein Angebot gemacht, das weit unter dem spanischen Standard lag. Eine Mehrheit wollte ablehnen. Da machten aber die britischen Frauen deutlich, welcher Fortschritt im Vergleich zu ihrer nationalen Gesetzgebung damit erreicht werden könnte – und der Ausschuß stimmte zu.

Hugh McMahon wird ins neue Parlament nicht zurückkehren. Das Zigeunerleben ist für ihn zu Ende, und er sieht tieftraurig aus, als er darüber spricht. Drei Labour-Abgeordnete aus Schottland werden es schaffen, höchstens vier, und er hat keinen der sicheren Listenplätze. „Ich bin ein Opfer der Gleichstellungspolitik“, sagt McMahon grimmig. Frauen seien auf die vorderen Listenplätze gesetzt worden.

Der ehemalige Lehrer McMahon ist gerade sechzig geworden, eigentlich ein gutes Alter für den Rückzug aus der Politik. Warum fällt ihm der Abschied so schwer? „Ich genieße diese Arbeit. Als Hinterbänkler konnte ich doch eine Menge bewegen, mehr beeinflussen, als es zu Hause möglich gewesen wäre.“ Womit beschäftigt sich ein pensionierter Europaparlamentarier auf dem Altenteil in Schottland? McMahon will sich in der politischen Bildung engagieren, Vorträge vor Schulklassen und in Volkshochschulen halten. Und wehmütig an die aufregende Zeit zurückdenken, als er noch dazugehörte.

Volkshochschule – für den SPD-Haushaltsexperten Detlev Samland ein Reizwort. Geplante Streitgespräche mit Wählern seien oft genau das – Volkshochschule. 90 Prozent der Diskussionsbeiträge seien reine Wissensfragen. Zu einer politischen Auseinandersetzung komme es gar nicht, weil die Zuhörer keine Ahnung hätten, was in Brüssel und Straßburg eigentlich passiert. Wie oft ist er auf Podiumsveranstaltungen schon mit den Worten vorgestellt worden: „Ich begrüße den Vorsitzenden des Haushaltsausschusses im Europarat ...“

Detlev Samland kehrt dem Wanderzirkus nach zwei Legislaturperioden den Rücken. Allerdings ist weder Europafrust noch ein schlechter Listenplatz schuld daran. „Ich kenne jede der dreieinhalbtausend Haushaltspositionen auswendig, habe dreißig Finanzminister erlebt. Meine Lebensmaxime: Alle zehn Jahre was Neues. Der bleibe ich treu.“

Samland kandidiert für den Posten des Essener Oberbürgermeisters. Auch im Kommunalwahlkampf läßt ihn Europa nicht los. Sicher, man müsse Weitblick und langen Atem haben, um zwischen der mühseligen Kleinarbeit im Europaparlament und den politischen Auswirkungen in den Mitgliedsländern die Brücke zu schlagen. Aber Beispiele gebe es genug: Rüstungskonversionsprogramm, KZ-Gedenkstätten, Asylpolitik – alles mit europäischem Geld. Gerade eben hat ihn eine junge Frau aus Frankreich besucht, die beim Essener Sportbund ihren Freiwilligendienst macht. „Das haben wir im Haushaltsauschuß 1997 erfunden. Für Jugendliche, die sich ein halbes Jahr im europäischen Ausland engagieren wollen. Inzwischen gibt es zehn Bewerber für einen freien Platz.“

Für Hiltrud Breyer geht in Straßburg ein langer Arbeitstag zuende. Es ist fast Mitternacht, als sie Mutter und Tochter ins Taxi setzt und mit ihnen auf die andere Rheinseite hinüberfährt, nach Kehl ins Hotel. In Straßburg war diese Woche wieder alles ausgebucht, sie muß daran denken, jetzt schon für die konstituierende Sitzung am 19. Juli zu reservieren. Barbara Dührkop wird damit bis nach der Wahl warten. Trotz sicherem Listenplatz hat sie auch noch keine Visitenkarten nachbestellt, zu abergläubisch. Am Freitag wird sie zum letzten Mal in dieser Sitzungsperiode die Blechkisten füllen, ein paar Umzugskartons kommen diesmal dazu. Die Straßburger Grundausstattung wandert hinüber in den neuen Glaspalast, den das Parlament nach der Sommerpause beziehen wird. Ein winziges Detail in einem Leben voller Umzüge. Wirklich nicht der Rede wert.