Alternativen im System

■ Von Selbsthilfegruppen bis zu Geburtshäusern: Korrekt wie eh und je weist das Stattbuch 6 viele Wege durch das „andere Berlin“

Als 1978 das erste Stattbuch Berlin erschien, war es noch einfach: Alles, was sich irgendwie abweichend und nonkonform gab, gemeinhin das Etikett „alternativ“ verdiente, fand Aufnahme im „Wegweiser durch das andere Berlin“. Und heute? Da spricht keiner mehr von einer sogenannten Alternativbewegung: Die Grünen sind Regierungspartei, und die Naturkostläden gehören genauso zum Straßenbild wie Penny und Plus.

Und die Grüppchen, die sich um Frauen, Ökologie, Dritte Welt – kurz Statt-Kultur kümmern – haben sich verändert, wie Dieter Rucht treffend im Vorwort zum jetzt erschienenen sechsten Stattbuch schreibt: „Der Blick ist kühler, der Kopf berechnender, auch wenn noch immer eine gewisse Lockerheit herrscht. Doch hinter der lockeren Fassade geht es ernst zu. Es ist die Rede von ABM-Geldern, Verhandlungen mit dem Senat und EU-Zuschüssen.“ Was bleibt, wenn man auch zum Jahrtausendwechsel nicht durch das vielbeschworene „neue“, sondern durch ein „anderes Berlin“ führen will? Tausende Adressen von Vereinen, Selbsthilfegruppen und Firmen, die allesamt mal mehr, mal weniger den Stempel „alternativ“ verdienen: Dieter Rucht bezeichnet sie in seinem Vorwort als „Alternativen im System“.

Keine leichte Aufgabe zu entscheiden, wer da ins Stattbuch darf und wer nicht. Selbsthilfegruppe haben darauf per se einen Anspruch. Es soll davon in Berlin rund 3.000 geben. Nicht alle können auftauchen, doch die 56 Glücklichen wurden mit vielen Details aufgelistet. Da wurde fleißig recherchiert. Und an alle gedacht: Alte Menschen haben ihr eigenes Kapitel genauso wie Kinder, Behinderte, Süchtige etc. Ganze 29 Seiten sind „Frauen, Männern und Familien“ vorbehalten. Die Bandbreite ist erstaunlich und reicht von Bildungsstätten bis zu Geburtshäusern.

Im Unterkapitel Schwule und Lesben jedoch wird das Dilemma der Stattbuch-Macher am deutlichsten: Wenn zum Beispiel in der Rubrik mit dem liebenswert-altertümlichen Namen „Treffs“ der Ackerkeller, das „schwul-lesbische Musikcafé“ (Musikcafé?), auftaucht, das „SO 36“ aber nicht, bleibt die Frage, was die beiden Tanzschuppen unterscheidet? Beide bieten schwul-lesbisches Tanzvergnügen für Eintritt. Überhaupt: Wer sich in Sachen schwul-lesbische Lebenswelten umfassend informieren will, nimmt lieber die Siegessäule zur Hand. In anderen Fällen, wie beim Kapitel „Kunst, Kultur und Medien“ ist die Zitty oder der Tip in Sachen Vollständigkeit vorzuziehen. Auch hier fällt die scheinbar völlig beliebige Auswahl auf. Daß zum Beispiel der Aufbau Verlag zu den alternativen Verlagen gehört, wer mag das noch glauben?

Anderseits ist das Stattbuch in den Kapiteln über Politische Initiativen, Bildung, Wohnen, Ökologie, Gesundheit etc wie gewollt und gewohnt ein exzellentes Nachschlagewerk. Und wenn dann in einem der die Kapitel jeweils begleitenden Texte ein Autor zu berichten weiß, daß das Kulturamt von Mitte „einen sehr weiten Kulturbegriff“ vertritt, paßt das irgendwie auch bestens ins Bild dieses Stattbuchs Andreas Hergeth

Stattbuch 6 Berlin, Stattbuch-Verlag, 360 S., 29,80 DM

„Der Blick ist kühler, der Kopf berechnender, auch wenn noch immer eine gewisse Lockerheit herrscht.“