„Das war ein Schuß!“

■ Dominik Grafs atemberaubender Thriller „Bittere Unschuld“ (20.45 Uhr, Arte)

„Rett ihn! Rett ihn! Rett ihn!“ skandieren die Komparsen bei Schiller. „In Gottes Namen denn!“ seufzt Wilhelm Tell und: „Ich will's mit meiner schwachen Kraft versuchen.“ Als Mutter Brandt irgendwann in Dominik Grafs neuestem und (für Fernsehverhältnisse) wieder mal atemberaubenden Thriller obige Verse aufsagt, ist Tochter Eva ganz angetan. „Aber so ganz“, gesteht der Teenager, „versteh' ich immer noch nicht, was das alles soll ...“ Da klingelt das Telefon. Die Mutter sagt: „Ich erklär's dir später“, doch dazu wird es nie kommen ...

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Wer aber das Ende des Films nicht verraten will, muß vom Anfang erzählen. Von Blumen zum Beispiel. Denn nach 88 Minuten wird sich kaum jemand an die allerersten Bilder im Vorspann erinnern: an das Gänseblümchen etwa, unschuldig' Ding; oder die Osterglocke, Frühlings Erwachen; dann diese Fotografie von Klein-Eva, das war einmal. Schnitt. Unvermittelt läßt das Filmorchester Babelsberg die Streicher üppig schmachten: blutrote Blütenpracht, fünfzehn weiße Lettern, „Bittere Unschuld“. Und das ist erst der Vorspann. Dann beginnt der Film – oder besser (und ganz im Gegenteil): der Showdown.

Auch der kann getrost erzählt werden. Wir sehen: ein Wohnzimmer, die Mutter, den betrogenen Ehemann, seinen Kollegen Larssen und – die Tochter, wie sie in ihrer Umhängetasche kramt. (Nur Vanessa, die kleine Parfümverkäuferin, mit der Grafs kammerspielkleine Personage vollends komplett wäre, sehen wir nicht.) „Ich hab' was für dich,“ sagt Eva, „etwas, das du brauchst.“ Wir bräuchten jetzt dringend eine Erklärung für all das, doch statt dessen gefriert die Wohnzimmerszene plötzlich zu einem Schnappschuß entsetzter Gesichter, der Film verdunkelt sein Antlitz, schreibt „Neun Tage vorher“ auf den Bildschirm und erzählt – „Zweiter Tag“, „Dritter Tag“ und so fort – endlich seine Geschichte.

Eine Geschichte aus der sonnendurchfluteten Suburbia-Idylle Augsburgs, hinter dessen weißlakkierten Vorgartenzäunen David-Lynch-Liebhaber wohl mit Recht eine „fremde und seltsame Welt“ (Laura Dern in „Blue Velvet“) wittern: zu Müßiggang und kleinen Fluchten verdammte Mittelstandshausfrauen, berufstätige Ehemänner, die vor lauter Schritthalten nicht einmal Zeit für ihre Midlife-crisis finden, und im Wohlbehütetsein vereinsamende Kinder. Unter der ereignislosen, harmoniesüchtigen und leidenschaftsfeindlichen Konformität gärt die Frustration, und manchmal braucht es gerade mal zehn Erdentage und alles, alles ist ganz anders.

„Bittere Unschuld“ ist ... ein Pharmathriller? Ein Vergewaltigungsdrama? Ein Strategiespiel? Eine Tragödie, Schicksalsstudie, Bürgerfarce? „Dominik Graf befaßt sich hier erstmals mit dem Genre des Melodrams“ weiß der Arte-Pressetext. Doch was hilft's? Da ließe sich ebensogut auf Grafs letzte große TV-Arbeit („Der Skorpion“ von 1997 mit Marek Harloff an der Seite seines Filmvaters Heiner Lauterbach) verweisen, einem Krimi, der eigentlich ebenfalls vom Erwachsenwerden erzählte und dann doch mit Happy-End schloß. Was man dem Regisseur auch diesmal vorwerfen könnte. Oder dem Drehbuchautor Markus Busch. Ebenso wie jenen dramaturgischen Trick, den Höhepunkt der Story vorwegzunehmen, auf daß wir gefälligst wissen wollen, wie's dazu kommen konnte.

Die Vokabel „Melodram“ allein jedenfalls und das zweifellos hervorragende Ensemble (die Mutter: Andrea L'Arronge; der Ehemann: Elmar Wepper; Kollege Larssen: Michael Mendl; die Tochter: Mareike Lindenmeyr; die Parfümverkäuferin: Laura Tonke) rechtfertigen gar nichts. Das gelingt erst der Virtuosität, mit der sich Graf und Busch und Kameramann Hanno Lentz usw. auch diesmal wieder bei aller Experimentierfreude, Detailbegeisterung und Dichte um ein breites Publikum bemühen.

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1.887 Verse später: „Das war ein Schuß! Davon wird man noch reden in den spätsten Zeiten“, jubelt's beim Dichterfürsten im Anschluß an die wohl legendärste Wilhelm-Tell-Szene. Teenagerin Eva weiß davon nichts. Wohl aber der Fernsehzuschauer.

Christoph Schultheis