Der Schrei der Liebe

■ In Chemnitz waren es mehr BHs: Echt rockten die Columbiahalle, nahmen aber sich, ihre Musik und auch ihre Fans nicht richtig ernst

Kim wippt mit der Attitüde eines habituellen Slackers selbstsicher zum Rhythmus der Musik über die Bühne

Gestenreich fuchtelnd betont Kim seinen Vortrag: Kniet sich in den Gesang, beugt sich über sein Mikrofon. Immer wieder streicht er sich sein blondes Haar aus den Augen, lächelt dann unvermittelt ins Publikum, strahlt es ganz unverschämt an und wippt mit der interessanten Attitüde eines habituellen Slackers selbstsicher zum Rhythmus der Musik gemächlich über die Bühne.

Zwischen den Songs reckt er oft beide Arme in die Luft, ruft dann „Berlin“ und ruft es so, als würde er nichts ernst nehmen, nicht sich selbst, nicht seine Band und schon gar nicht seine Fans.

Alles ist ein großer Spaß. Das Publikum ist ganz aus dem Häuschen – es singt und johlt und kreischt und fällt in Ohnmacht und klatscht und kauft sich wiederholt ein Bier und überlegt, ob das Geld noch für ein Tour-T-Shirt reicht.

In drei Jahren ist Kim entweder eine coole Sau, vergessen oder drogenabhängig in Folge des übermäßigen Erfolgs. Dann wird man ihn vermutlich aus der Gosse des Bahnhofs im heimatlichen Flensburg kratzen und er wird darüber jammern, dass er damals wie seine Freunde die Schulausbildung abgebrochen habe, um alles auf eine Karte zu setzen. Rock 'n' Roll ist bekanntlich ein gefährliches Spiel, und Kim ist der Vortänzer einer Band, die sich anschickt, Deutschlands erfolgreichste dieses Genres zu werden – Echt.

Während Kim also am Bühnenrand seine Mätzchen mit dem Publikum in der ausverkauften Columbiahalle macht, verhalten sich seine Kollegen konsequent verhaltensunauffällig. Sie beschäftigen sich nur mit ihren Instrumenten. Flo, Kai, Gunnar und Puffi sind mit gerade noch 17 und knapp 18 Jahren leicht älter als Kim. Sie sind wie Jungs in ihrem Alter eben sind, sie tragen T-Shirts und weite Hosen mit praktischen Taschen. Gunnar und Puffi meinen offenbar, dass ihre Langhaarfrisuren ihren Charakter unterstreichen, Kai hat eine Mütze auf dem Kopf, Flo sitzt am Schlagzeug.

Der augenscheinliche No-Style der Band harmoniert ganz ausgezeichnet mit der Unfähigkeit sehr junger Männer, sich ansprechend zu kleiden. Das sympathische Publikum weiß das zu schätzen, aber es will mehr, „Ausziehen! Ausziehen!“ schreit es Echt entgegen.

Doch Kim hat anderes im Sinn. Er bückt sich über die Bretter, liest BHs vom Boden auf und betrachtet die Fundstücke leidenschaftslos in seiner Hand. „Nur zwölf, in Chemnitz waren es mehr. Oder tragt ihr noch keine BHs?“ Dann legt er sie achtlos zur Seite und sagt noch „Ich leg die mal so achtlos beiseite“, doch die Laune bleibt ungetrübt. Erst als ein namentlich unbekanntes Nachwuchstalent im Rahmen einer Product-Placement-Maßnahme zwischendurch ihr zweifelhaftes Liedgut vorträgt, kommt es zu einem Spannungstief. Danach ist es an Kim, die Show zu retten. Noch einmal setzt er sein Lächeln auf, die Band spielt „Du trägst keine Liebe in dir“, das Publikum ruft „Huuh! Huh“, und Kim nennt es den „Schrei der Liebe“. Dann ist es schon spät. „Ein schönes Konzert“, werden sich die meisten auf dem Heimweg denken.

Wie vielen aber aufgefallen ist, dass Echt eine erstaunlich perfekte Liveband sind, bleibt ungewiss.

Harald Peters