Wieder Licht in der Scheune

In der brandenburgischen Gemeinde Schöneiche an der Grenze zum Ostteil Berlins mischt die ehemalige DDR-Bürgerrechtsbewegung Neues Forum bis in die heutige Zeit in der Lokalpolitik mit. Zwei Mitglieder sitzen noch heute in der Gemeindevertretung    ■ Von Karen Heinrichs

Henry Kugelmann: „Wir sind immer drangeblieben. Man muss die Leute nerven, dann erreicht man etwas.“

Sie trafen sich in einer alten Scheune und in schmalen Kellerräumen. Nur spärlich gewärmt von einem stinkenden Ölofen, sponnen dort 30 bis 40 Mitglieder des Neuen Forums Schöneiche Monate vor dem Mauerfall ihre Visionen vom „attraktiven Sozialismus“.

Jetzt ist wieder Licht in der Scheune. Wie damals sitzen die Menschen auf Kartons zwischen alten DDR-Möbeln. Nur liegen heute Apfelsinen statt Schmalzstullen auf dem Tisch – und Erinnerungen werden über Mikrofon ausgetauscht. Eine Frau, Mitglied des Neuen Forums, steht auf und sagt, als hätte es sich vor 10 Jahren genauso abgespielt: „Wenn wir zusammenhalten, können wir noch viel erreichen für Schöneiche.“

In der 12.000-Seelen-Gemeinde einen Kilometer vor Berlin hat die tot geglaubte DDR-Reformbewegung „Neues Forum“ überlebt. Henry Kugelmann und Wolfgang Schudt sind die letzten Bürgerrechtler Brandenburgs, die für das Neue Forum in einem Gemeinderat sitzen. Noch bei der letzten Legislaturperiode waren sie zu fünft, vorher zu sechst. Damals galten sie als das Aushängeschild ihres Kreisverbands. „Man hat sich mit uns gebrüstet“, erinnert sich Henry Kugelmann.

Heute gerät die Bewegung couragierter Ostdeutscher, die halfen, die Revolution anzuschieben, in Vergessenheit. Kaum einer weiß, dass sich in Schöneiche noch immer regelmäßig acht aktive Mitglieder des Neuen Forums treffen. Statt in kalten Kellerräumen und Scheunen halten die Architekten, Ärzte, Selbstständigen und Landwirte ihre Parteisitzungen jetzt in der gemütlichen Couchgruppe in Henry Kugelmanns zentral beheiztem gläsernem Firmenneubau ab.

Unter den „Neuen“ zwischen den übrig gebliebenen Mitgliedern ist ein englischer Journalist, der sich aus Hochachtung für den Mut der Gründungsmitglieder dem Neuen Forum angeschlossen hat. Für kurze Zeit hatte sich auch ein Westdeutscher bei ihnen engagiert. Bis er weggezogen ist. „Ein guter Mann“, sagt Kugelmann mit Bedauern. Gute Leute, die sich mit Herz in unentgeltliche Arbeit stürzen, seien heute schwer zu bekommen.

Das Neue Forum Schöneiche schreibt sich nicht mehr, wie noch vor 10 Jahren, gesellschaftliche Umbrüche auf die Fahnen – es kämpft um die Gesamtschule, für Kitas und das Altenheim in ihrem Dorf. Auf dem Protokoll der ersten Versammlung findet sich neben der Forderung nach einer neuen Verfassung die Forderung nach einem modernen Altenheim für Schöneiche.

Die neue Verfassung hatten sie schon nach einem Jahr. Das Altenheim steht jetzt auch, und Kugelmann ist stolz: „Wir sind immer drangeblieben.“ Jetzt hänge ihr Herz an der Gesamtschule. Die Mitglieder des Neuen Forums möchten die Schließung verhindern und Geld für einen Anbau frei machen. Sie wollen die anderen Gemeindevertreter so lange „pieken“, bis sie ihre Forderungen durchsetzen. „Man muss die Leute nerven, dann erreicht man was“, ist Kugelmanns alte und neue Strategie. Als Lokalmatadore kämpfen die Mitglieder des Neuen Forums weiter für die kleinen Leute.

Mit dem Tod ihres letzten Kreisvertreters, Rudi Dollan, ist das einzige Verbindungsglied Schöneiches zu überregionalen Verbänden des Neuen Forums gekappt. Sie wissen nicht einmal, ob noch welche existieren.

Schudt hatte in der Vergangenheit das Neue Forum Schöneiche oft bei Kreisversammlungen vertreten. Doch das habe nichts gebracht, sagt er: „Man hat sich nur über formale Kinkerlitzchen gestritten.“ Die Schöneicher hatten ganz andere Ideen. „Wir wollten vor Ort was tun.“

Schudt und Kugelmann sind noch heute enttäuscht, dass sich viele namhafte Mitglieder, wie Bärbel Bohley, nach der Wende ausgeklinkt und die Bürgerbewegung sich selbst überlassen haben. Während sich andernorts die Leute etablierten Parteien anschlossen, gab es in Schöneiche eine Hand voll Menschen, die sich sagten: „Wir sind eine Bürgerbewegung, und wir wollen eine bleiben.“

In den vorangegangenen Legislaturperioden kam das Neue Forum bei den brandenburgischen Kommunalwahlen in Schöneiche noch auf 25 Prozent. Das letzte Mal waren es nur 9 Prozent. Kugelmann meint den Grund zu kennen. Die Leute würden sich wieder zurückziehen, weil sie glauben, sie könnten sowieso nichts verändern. „Das war zu DDR-Zeiten genau dasselbe.“

Wie nur wenige hat er sich den unerschütterlichen Glauben aus der Umbruchszeit, etwas tun zu können, bewahrt. Im Großen könnten sie zwar nichts mehr verändern, da ist Kugelmann Realist: „aber hier im Kleinen kannste was machen“.

Den parteitypischen Wollpulli hat er abgelegt, der Zopf ist noch dran. Wenn er vom Vorherbst des Mauerfalls erzählt, wird er lebendiger, seine Augen fangen an zu glänzen. Für ihn sei es eine schöne Erfahrung gewesen, wie die Menschen aus ihren Nischen hervorgekrochen kamen und versucht haben, etwas zu verändern. „Erstaunlich, wie viele Menschen man bewegen konnte.“ Henry Kugelmann war damals 26 Jahre alt. Es habe unheimlich viele Leute gegeben, die sich trotz der Gefahr durch die Stasi nicht versteckt und gewartet hätten.

Damals hielten Mitglieder des Neuen Forums Reden in der Schöneicher Dorfkirche und der Scheune des Pfarrers. Beide waren jedesmal krachend voll. Mit der Wiedervereinigung wurde es wieder still auf dem Pfarrhof. „Manchmal glaube ich“, erzählt Werner Schudt, „dass wir die Leute überhaupt nicht mehr interessieren.“ Schudt, Kugelmann und die andern hängen an ihren Erinnerungen. Sie heben Unterlagen aus Gründungstagen sorgsam auf. Das Papier mit ihren Forderungen ist schon leicht vergilbt – doch noch deutlich lesbar steht dort: „Wir fordern (...) Volksentscheid über eine neue Verfassung, (...) freie Wahlen, (...)freie Medien.“ Das Schöneicher Neue Forum wollte einen „attraktiveren Sozialismus“ schaffen und setzte in Klammern hinter diese Forderung: „Wir streben keine kapitalistischen Verhältnisse an.“ Obwohl dieser Wunsch nicht wahr geworden ist, meckern sie nicht, sondern klotzen. Selbst Schudt, der nach der Wende vom Entwicklungsingenieur zum Lehrlingsausbilder beruflich abgestiegen ist, meint: „Es bringt nichts, zu maulen“.