Sie küssten und sie schlugen sie

In Frankreich hat ein Manifest der Regisseure eine Debatte ausgelöst. Es beklagt den angeblichen Niedergang der Kinokritik und fragt: Wie gemein dürfen Kritiker eigentlich schreiben? Und die Maßstäbe! Und überhaupt, die Verantwortung!  ■   Von Katja Nicodemus

Verreißen soll man mit Anstand, aber loben darf man so blöd, primitiv und uninspiriert wie man will

Einen Schöpfer nach seiner Meinung zu einer Kritik zu befragen, das bedeutet, die Laterne zu fragen, was sie vom Hund hält.“ (John Osborne)

In Frankreich haben sich die Laternen jetzt endlich gewehrt, nach Jahren duldsamen Angepinkeltwerdens. Und sie sagen den Hunden nicht nur die Meinung, sie wollen's ihnen zeigen, und zwar gleich so, dass man von einer wahren Laternenrevolution sprechen könnte.

Aber erst mal alles der Reihe nach: Mitte Oktober schreibt der Regisseur Patrice Leconte („Der Mann der Friseuse“, „Ridicule“) einen Brief an den Verband der französischen Produzenten und Regisseure, ARP, in dem er die zynische Haltung der heimischen Kritik anprangert. Von „geplanten Morden“ ist die Rede, von einer „Verschwörung gegen das populäre Kino“. Um der Situation zu begegnen, habe er schon seine Ideen, und: „Danke, wenn Sie mich mit meiner Wut nicht allein lassen.“ Dass er damit nicht allein geblieben ist, dass sich, im Gegenteil, eine ganze Phalanx wütender Laternen formierte, beweist ein Manifest, das vor einigen Tagen von Libération in ganzer Länge abgedruckt wurde. Unter der Überschrift „Nous cinéastes ...“ wenden sich französische Regisseure (zum Zeitpunkt des Abdrucks war der Text interessanterweise noch nicht unterzeichnet, und der Verband weigerte sich, ihn zu autorisieren) gegen ihre langjährige Peinigerin, die da Kritik heißt. Das Manifest ist sehr lang und ein bisschen konfus, aber wie gesagt, die Wut ist groß.

Zum Inhalt: Mit Diderot, Proust, Mirabeau, Baudelaire und Malraux bemüht man erst mal große Eminenzen des esprit critique, um sich gleich darauf die kleinen Kläffer vorzunehmen. „Sadismus“, „Demagogie“, „Polemik“ sei die Haltung der französischen Filmjournaille, mit ihrer „Semantik des Hasses und der Verachtung“. Reine Eitelkeit treibe die Pariser Schreiberkaste bei ihrem destruktiven Werkeln an, die Filme selbst seien nicht Thema, sondern nur mehr Vorwand für persönliche Profilierungen. Ätzende Überschriften werden Zug um Zug als Indizien vorgelegt (unter anderem so hübsche wie „Chronique d'une merde annoncée“ von Gérard Lefort, dem Filmredakteur von Libération, auf den sich im Übrigen der meiste Zorn entlädt).

Im Schimpfen sind die Noch-nicht-Unterzeichner des Manifests also große Klasse, wobei sie natürlich in genau den Sprachstil hineinrutschen, den sie an Filmtexten so verwerflich finden. Beim Argumentieren hapert es dann schon mehr. Da beklagt man sich unter dem Stichwort Unverständnis darüber, dass die besten Filme der sogenannten Nouvelle Nouvelle Vague, „Nord“ von Xavier Beauvois und „La vie de Jésus“ von Bruno Dumont, in den bürgerlichen Gazetten Le Matin de Paris und Le Quotidien de Paris verrissen wurden. Und unterschlägt, dass gerade dieses junge sozialkritische Kino Hätschelkind der linksliberalen französischen wie der internationalen Kritik war.

In der Mitte des Manifests dann eine erste Forderung. Auf den Punkt gebracht lautet sie etwa so: Eigentlich sollten Laternen nur von Laternen kritisiert werden, die wissen wenigstens, mit wem sie es zu tun haben. Ein Beispiel: „Jean Renoir konnte böse über Marcel Carné reden, weil er Jean Renoir war.“ Heißt das jetzt, dass, wer zum Griffel greift, mindestens einen Experimentalfilm gedreht haben muss? Und ab wann weiß man, dass man Jean Renoir ist, selbst wenn man Jean Renoir ist?

Immerhin, eine Handvoll alter Kritiker scheint auch für die aufrührerischen Regisseure über alledem zu stehen, aber nicht weil sie Jean Renoir waren, sondern Godard, Truffaut, Rivette, Rohmer hießen. Als sie schrieben, hatten sie zwar noch keine Filme gedreht, doch darüber sehen die Manifestler rehabilitierend hinweg. Und geraten ins Schwärmen angesichts der „ausgefeilten, elaborierten, moralischen, hoch anständigen Regeln“ eines Rohmer“ – der demnach schon Rohmer war, als er noch gar nicht wusste, dass er Rohmer war. Was wohl Claude Autant-Lara oder andere Vertreter des Pantoffelkinos dazu gesagt hätten, deren konservative Nachkriegsfilme von den kämpferischen jungen Wilden der damaligen Cahiers, Moral hin oder her, als hoffnungslos bourgeois geschmäht wurden?

Nous cinéastes ...“ – ist das Manifest nun ein Sturm im Wasserglas, berechtigter Ruf nach einem besseren Standard der Kritik, Aufforderung zur Auseinandersetzung, neue überflüssige Feuilletondebatte oder Ausdruck einer unzufriedenen Branche, die sich ärgert, dass „Asterix“ oder der neue Polanski (Lefort: „Wird in die Geschichte der gequirlten Scheiße eingehen“) nicht so ankommen, wie man es halt gerne hätte.

Schade eigentlich, dass der Ruf nach Kriterien, Maßstäben, nach Legitimation und künstlerischer Initiation der Kritik immer nur als Reaktion auf negative Urteile denkbar ist. Gelobt werden darf blöd, albern, bewusstlos, konfus, uninspiriert, stereotyp. Hauptsache, ein, zwei hymnische Floskeln. Das Lob steht sozusagen außerhalb des kritischen Diskurses über die Kritik.

Völlig ungeschoren kommen im Manifest die Verleiher davon, deren hysterische Dispositionspolitik Fimen immer weniger Chancen lässt, sich durch Mundpropaganda zu entwickeln. Wenn gleich die ersten drei Tage in den Sälen über Leben und Sterben entscheiden, bekommen negative Urteile überproportionale Bedeutung. Schuld daran soll aber nur der Kritiker sein, der sie schreibt. Und der sich weigert, bei jeder Zeile an die Herstellungskosten zu denken, gar nicht zu reden vom Herzblut der Regisseure. Und überhaupt, die Übermacht der Amerikaner! Für die ist die kritische Meckerei an heimischen Produkten im stalinistischen Umkehrschluss sowieso immer mitverantwortlich. Schon merkwürdig, da wird in den Gatt-Verhandlungen für die kulturelle Ausnahme gestritten, aber bei der Auseinandersetzung mit diesen Kulturgütern soll dann bitte schön auch an die ökonomische Verantwortung gedacht werden.

Am Anfang ihres Manifests schreiben die beleidigten Regisseure feierlich: „Wir erkennen an, dass die Existenz der Filmkritik ihre Berechtigung hat.“ Später ist noch mal vage von Koexistenz und Verständnis die Rede. Erst ganz am Schluss wird die Katze aus dem Sack gelassen, und plötzlich wirken Proust und Rohmer, die Moral und Renoir nurmehr wie das essayistische Vorspiel: „Wir wünschen, dass vor dem ersten Startwochenende keine negativen Kritiken erscheinen“, steht da ganz lapidar. Jubeln oder Klappe halten, so viel zur Kultur der Kritik an der Kritik.