■  Die Eröffnungsveranstaltung des Treffens der Welthandelsorganisation WTO in Seattle musste ohne geladene Gäste stattfinden. Demonstranten legten den Verkehr lahm und lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei
: Innenstadt außer Kontrolle

Tränengas, Gummimunition und Schlagstöcken trotzend, lieferten sich am Dienstag in Seattle tausende von Demonstranten Straßenschlachten mit der World Trade Organization und einer zahlenmäßig weit unterlegenen Polizei. Die Behörden verhängten eine Ausgangssperre und alarmierten die Nationalgarde. Nach Einbruch der Dunkelheit durchstreifte die Polizei die Innenstadt und vertrieb Demonstranten mit Tränengas. Die Auseinandersetzungen zogen sich bis in die frühen Morgenstunden. Überall lagen Schilder, leere Tränengasbehälter und Scherben verstreut.

Ziel der Demonstranten war es, die Innenstadt zu besetzen und die Eröffnungszeremonie der WTO-Tagung zu verhindern. Ein Demonstrant fasst den Tag mit den Worten „Wir gewinnen!“ zusammen – mit weißer Farbe ins Fenster eines Bankgebäudes gepinselt.

„Diejenigen, die gegen die Eröffnung des WTO-Gipfels demonstrierten, haben ihr Ziel erreicht“, sagte Polizeichef Norm Stamper. Aufgrund der eskalierenden Straßenschlachten sah sich Gouverneur Gary Locke gezwungen, die Nationalgarde anzufordern. Auf die Frage, ob die Polizei die Situation unter Kontrolle habe, sagte Seattles Bürgermeister Paul Shell: „Ja.“ Er hatte sowohl den Ausnahmezustand ausgerufen als auch die von 19 Uhr bis 7 Uhr morgens geltende Ausgangssperre verhängt. „In dieser Stadtverwaltung arbeiten Menschen, die in den 60er-Jahren auf die Straße gegangen sind. Ich wollte nie der Bürgermeister sein, der die Nationalgarde anfordert.“

Derweil beherrschten die Demonstranten die Straßen, und Banden nutzten das allgemeine Chaos, um Geschäfte zu plündern. Locke stellte gestern zusätzliche 200 Sonderbeamte und 300 weitere Polizeibeamte in Seattle auf. Zum ersten Mal in der Geschichte der Vereinigten Staaten wurde in Seattle die Nationalgarde eingesetzt. Bei der Ausgangssperre handelte es sich um die erste seit dem Ersten Weltkrieg.

Stamper nahm seine 1.200 Beamten in Schutz. „Unsere Beamten haben angesichts der schwierigen Lage alles getan, was in ihrer Macht stand.“ Nach Angaben des Polizeichefs hat die Polizei bereits seit Monaten mit Dutzenden von Demonstrantengruppen in Verhandlungen gestanden. Dennoch hätten die Behörden die Anzahl der unangemeldeten und gewaltbereiten Demonstranten unterschätzt. Nur in äußersten Krisenfällen werde auf die Nationalgarde zurückgegriffen, sagte er.

Bis Mitternacht nahm die Polizei über 60 Demonstranten fest. Shell stellte allerdings fest, dass selbst massenhafte Inhaftierungen keine Auswirkungen auf den Fortgang der Ausschreitungen gehabt hätten: „Man kann die Leute nicht einfach so festnehmen.“

Obwohl die Demonstranten überall in der Stadt verteilt zu sein schienen, waren die wenigsten an den Ausschreitungen beteiligt. An manchen Straßenecken wurde sogar eine Art improvisierter Karneval gefeiert. Es wurde getanzt, es gab Jongleure, eine Frau übte mit ihrem Hula-Hoop-Reifen, ein junger Mann ging auf Stelzen durch die Menge. „Ich bin wirklich fassungslos, dass ein paar hundert Leute außer Kontrolle geraten sind und die friedliche Botschaft der zehntausende von Demonstranten untergraben haben“, sagte ein erschöpfter Ron Judd, Vorsitzender des King County Labour Council, nachdem 25.000 Gewerkschaftsmitglieder durch die Innenstadt gezogen waren. „Das Augenmerk aller ist auf die 150 Randalierer gerichtet, von denen wir schon befürchtet hatten, dass sie Ärger machen würden.“ Einige von ihnen hätten sich die Schilder der Gewerkschaftler gegriffen und vorgegeben, Gewerkschaftsmitglieder zu sein.

Die meisten Demonstranten hatten die Innenstadt bereits geräumt, als die Ausgangssperre in Kraft trat. Nach Einbruch der Dunkelheit bewegte sich die Polizei die Pike Street hinunter in Richtung Sheraton Hotel, wo sie erneut mit Tränengas gegen rund 1.000 Demonstranten vorging. Zwei Polizeieinheiten trieben die Demonstranten die Pike Street hinunter. „Wir räumen jetzt die Straßen“, sagte ein Polizeibeamter. Eingekesselte Demonstranten riefen den Beamten zu: „Geht zurück in den Dschungel!“

Die 18-jährige Journalistikstudentin Amber Lewis vom Amery College in Atlanta stand auf einer Mülltonne, als sie eine volle Ladung Tränengas ins Gesicht bekam. „So etwas darf einfach nicht passieren“, sagte sie weinend, während zwei Frauen ihr die Augen mit Kochsalzlösung auswuschen. „Nicht gerade der ideale Abend für einen Einkaufsbummel“, sagte ein Polizeibeamter trocken. Diejenigen, die ihrer Arbeit nachzugehen versuchten, liefen Gefahr, in die Auseinandersetzungen hineingezogen zu werden. Am späten Nachmittag entführten einige Demonstranten einen Müllwagen und türmten Mülltonnen davor auf, um sich vor der Polizei zu verschanzen. Der Fahrer des Wagens sagte per Mobiltelefon, dass er entnervt sei, sich aber nicht bedroht fühle. „Es soll ja Leute geben, die arbeiten geben müssen“, sagte er gegenüber einem Reporter. „Die sollen ihr Tränengas benutzen, damit ich hier weitermachen kann.“

Terry Laggner-Brown, Sprecherin der WTO, wies Gerüchte zurück, nach denen sich die WTO aus Seattle zurückziehen wolle. „Ich stehe hier im Pressezentrum der WTO, und ich kann Ihnen versichern, dass diese Konferenz weitergeführt wird“, sagte sie.

Die große Demonstration am Mittag schien die Lage etwas zu beruhigen. Doch später wurden erneute Ausschreitungen gemeldet. Auslöser war eine kleine Gruppe selbst ernannter Anarchisten, die die Polizei mit Flaschen bewarf und mit Hämmern und anderen Werkzeugen Schaufenster einzuschlagen begann. „Ich finde es nicht in Ordnung, andere Menschen anzugreifen“, sagte Rain, ein 17-jähriger Demonstrant, „aber Sachbeschädigung ist nicht dasselbe. Wir werden uns sicher nicht hinlegen und Love und Peace sagen und Blumen verteilen.“ Einige Demonstranten warfen Tränengasbehälter zurück.

Bei der Bank of America wurden Fensterscheiben zertrümmert, ebenso bei Star Buck, der Washington Motual Bank, Warner Brothers, Banana Republic, Nordstrom, FAO Schwarz und McDonald's. Auf vielen Gebäuden prangte ein rotes A. Auf einer anderen Häuserwand war noch einmal wie ein Menetekel in schwarzer Farbe die Botschaft der Demonstranten zu lesen: „Vergesst nicht, dass wir gewinnen.“

Auch unser Korrespondent Andreas Zumach verschwand im Chaos von Seattle. Deshalb drucken wir hier eine gekürzte Reportage von Scott Sunde aus der amerikanischen Zeitung Seattle Post-Intelligencer.