Große AKW-Teilchen

■ BUND kritisiert „Crud“-Partikel aus Reaktorschornsteinen und die Atomdebatte

Berlin (taz) – Seit Monaten ist er in allen Medien ein Dauerthema, der geplante Ausstieg aus der Atomwirtschaft. „Es ist der Atomwirtschaft gelungen, den Ausstieg als absurdes, rein ideologisch motiviertes Vorhaben darzustellen, das mit Kapitalvernichtung, also mit hohen Unkosten verbunden ist, meinte gestern der Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland (BUND). Mit einer Studie will der BUND die ökologischen Aspekte der Atomwirtschaft wieder stärker in den Vordergrund der Diskussion stellen.

An Hand von fünf Fallstudien wollen die Verfasser Helmut Hirsch und Oda Becker die Behauptung von der Sicherheit der deutschen AKW widerlegen. Das Expertenduo hat sich die Atomkraftwerke Biblis, Krümmel und Stade sowie die Siedewasserreaktoren der Baulinie 69 als Untersuchungsobjekte vorgenommen.

Auch in der seit über einem Jahrzehnt laufenden Diskussion um die Häufung von Leukämieerkrankungen in der Umgebung des AKW Krümmel setzt die Studie neue Akzente. Sie fasst die „Crud“ genannten großen radioaktiven Partikel aus dem Kühlwasser des Reaktors ins Auge. Sie spielten bei den öffentlich vorgelegten Untersuchungen bisher keine Rolle.

Die Partikel können unbemerkt über die ungefilterte Abluft des Maschinenhauses in die Umwelt gelangen, weil die Kontrollen bisher nur auf kleinste radioaktive Partikel ausgerichtet sind. Schon ein einzelnes dieser Crud-Teilchen kann bei einem Kleinkind zu Strahlenbelastungen von zehn Millisievert und mehr führen und so Leukämie hervorrufen.

Die Crud-Partikel wurden im Rahmen des Castor-Skandals im Mai 1998 bekannt. Auf den Atombehältern lagerten außen große Strahlenpartikel, so dass die zulässigen Grenzwerte überschritten wurden.

Andere Reaktoren stehen aber nicht viel besser da als Krümmel. Biblis müsse nach Paragraph 19 des Atomgesetzes wegen von der Aufsichtsbehörde nach einer Beinahe-Katastrophe festgestellten schwerwiegenden Mängel und der fehlenden Erdbebensicherheit sofort abgeschaltet werden, lautete das Fazit von Beamten des seinerzeit von den Grünen geführten hessischen Umweltministeriums. „Es ist daher unverständlich, dass das BMU die Hessische Landesregierung nicht schon längst angewiesen hat, Biblis A stillzulegen“, heißt es in der Studie.

Das älteste deutsche AKW, Obrigheim, wird in seiner Bauart und Sicherheitsproblematik mit Reaktoren sowjetischer Bauart in Osteuropa verglichen. Die Studie richtet ihr Augenmerk darauf, dass die Notkühlsysteme einen Bruch der Hauptkühlleitung nicht beherrschen. Einwände von Fachbeamten im baden-württembergischen Umweltministerium seien einfach übergangen worden.

Beim zweitältesten AKW, Stade, zeigen besonders die Schweißnähte an einer kritischen Stelle des Reaktordruckbehälters altersbedingte Versprödungsprobleme.

Die Siedewasserreaktoren der Baulinie 69, die noch in Brunsbüttel, Isar-1, Phillipsburg-1 und Krümmel in Betrieb sind, erfüllen nach Recherchen der Studie keines der in der Atomgesetznovelle von 1994 erforderten Sicherheitskriterien bei der Beherrschung von Kernschmelzfällen. „Das Risiko eines Unfalls in deutschen AKW ist keine nur hypothetische Möglichkeit“, lautet das Resümee von Helmut Hirsch. Peter Nowak