2.200 Watt für die Erinnerung

Bis in die Siebziger war das Barrio Reus Zentrum jüdischen Lebens in Montevideo. Heute leuchtet dort Mischa Kuballs Installation „greenlight“. Das Goethe-Institut ist's ebenso zufrieden wie die Bewohner des ersten Arbeiterviertels Südamerikas  ■   Von Christiane Kühl

22 grüne, reguläre 100-Watt-Baulampen an den Wänden – „Aber ... das sind doch Kerzen!“

Die Dämmerung ist flinker als die Tangotänzer auf der Plaza Matriz. Jetzt, im Frühling, der die Temperaturen bereits auf 28 Grad steigen lässt, verschwindet die Sonne um halb acht in Richtung Argentinien. Eine halbe Stunde leuchten noch die Schaufenster mit ihren nordamerikanischen Markenwaren und asiatischem Nippes; um halb neun, wenn die eisernen Rollläden in den Geschäftszentren Montevideos heruntergelassen sind, ist es am Rio de la Plata zappenduster. Selbst zur Weihnachtszeit, auf die man sich auch in der südlichen Hemisphäre mit einem dick in Rot vermummten Mann vorbereitet, werden die längsten Tage des Jahres die Nacht am 35. Breitengrad nur um eine Stunde hinauszögern.

Die Sonne ist das Zeichen der urugayischen Republik. Seit der Unabhängigkeit des kleinen Landes 1830 prangt sie auf dem Staatswappen und der Nationalflagge, und seit der Fremdenverkehr zum Devisenbringer Nummer eins wurde, ziert sie auch das Signet des Ministeriums für Tourismus. Nun aber scheint es, als wolle das elektrische Licht der Sonne den Symbolrang ablaufen. Nicht weil, wie überall im Global Village, CocaColaKodakSony-Leuchtreklamen grell die Direktverbindung zum Nabel des Kapitalismus behaupten. Sondern weil in Uruguay, das lange vor Deutschland den Acht-Stunden-Tag, Arbeitslosenunterstützung und Altersrenten gesetzlich verankerte, heute die Straßenbeleuchtung ein wichtiger sozialpolitischer Topos ist.

70.000 Straßenlaternen zählt die Stadtregierung stolz für die 1,6 Millionen Einwohner Montevideos, 25.000 Lichtquellen mehr als 1989, bevor das Linksbündnis Frente Amplio hier die Geschäfte übernahm. Licht als Metapher für sozialen Fortschritt, Integration der Marginalisierten und vor allem bürgerliche Sicherheit versucht auch das Elektrizitätswerk U.T.E. zu etablieren: In einem groß angelegten Feldversuch zur Senkung der Kriminalität liefert es momentan an diverse arme Stadtteile den Strom für die nächtliche Straßenbeleuchtung gratis. Auch als das Montevideoer Goethe-Institut sich Anfang November an U.T.E. wandte mit der Bitte, eine geplante Lichtinstallation des deutschen Künstlers Mischa Kuball in dem heruntergekommen Stadtviertel Reus zu sponsern, war man sehr aufgeschlossen. Bis der Künstler um Licht für 22 grüne, reguläre 100-Watt-Baulampen bat. „Aber ... das sind doch Kerzen“, bemerkte der Direktor indigniert. Und zog das Angebot zurück.

Ricardo Scaglia war und sollte nicht der einzige bleiben, den der Minimalismus von „greenlight“ verstörte. Doch das Unterlaufen von Erwartungen gehört zu Mischa Kuballs Konzept. Nicht um der kurzfristigen Irritation des Kunstbetriebs willen, sondern weil im Moment der Enttäuschung die eigene Position und umgebende Situation überprüft werden: „In jedem anderen Beruf wird man für die Nichterfüllung von Erwartungen gekündigt, aber in der Kunst kann das zu Handlungssträngen führen.“ Seit 20 Jahren konzipiert der Düsseldorfer ortsspezifische Installationen, vornehmlich in nicht institutionellen Zusammenhängen des urbanen Raums. Dabei versteht er sich weniger als Autor denn als „Katalysator einer intensivierten Kommunikation“. Als er 1990 per ausgeklügelter Nachtbeleuchtung einzelner Büroräume das Düsseldorfer Mannesmann-Hochhaus zum urbanen Träger von „Metazeichen“ wandelte, hatte er zuvor mit 700 Mitarbeitern des Konzerns Gespräche über seine Idee und ihre Partizipation geführt.

Die Angestellten waren es, die über sechs Wochen nach Büroschluss die richtigen Lichtschalter knipsten. Auch „Public Light/Private Light“ 1998 auf der Biennale São Paulo nutzte den Ort und seine Bewohner als Ressourcen, die aus der Geste einen dynamischen Prozess machen. Kuball hatte mit 72 brasilianischen Familien eine von ihm entwickelte Standardleuchte gegen ihre heimischen Wohnzimmerlampen getauscht und diese ausgestellt. Bedeutungspiele über Kontextverschiebung.

Die Einladung nach Montevideo erhielt der 39-Jährige vergangenen Sommer. Ein Jahr standen der Leiter des dortigen Goethe-Instituts, Hans-Georg Thönges, und der Projektentwickler der Nueva Congregación Israelita, José David, zu jenem Zeitpunkt bereits im Gespräch über eine Installation in dem ehemaligen jüdischen Viertel der Stadt, dem Barrio Reus. Auch David hatte eher etwas Spektakuläres im Sinn: Ein Musical konnte er sich vorstellen, das tanzende Kinder des Barrios und große Diaprojektionen einbinden sollte. Von Kuball überzeugt hatte ihn schließlich dessen Arbeit in der Synagoge Stommeln bei Köln, die der Künstler für zwei Monate abschloss, um von innen heraus gleißendes Licht in den Ort zuwerfen. Kuball selbst war dem Projekt im Barrio gegenüber anfangs skeptisch: „Das Thema war so groß, es schien mir nicht zu bewältigen“, erklärt er bei einem Mineralwasser in einem der unzähligen Schnellrestaurants Montevideos, wo ohne Unterlass Steaks in der Größe platt gefahrener Fußbälle serviert werden. Die im Übrigen dem durchschnittlichen Europäer auch nicht zu bewältigen scheinen.

Als 1888 mit dem Bau des Barrio Reus begonnen wurde, sah der Plan des Rechtsanwalts Emilio Reus mit 531 zweistöckigen Häusern das erste Arbeiterviertel Südamerikas vor. Knapp eine Million Menschen lebte zu jener Zeit in Uruguay, die nach gewissenhafter Ausrottung der Indios fast ausschließlich europäischer, vor allem italienischer Herkunft war. Die jüdische Einwanderung nach Südamerika hatte 1870 begonnen; 1913 begannen die ersten osteuropäischen Juden, sich im Barrio Reus niederzulassen. Die moderne Demokratie des Präsidenten Battle hieß die gut ausgebildeten Handwerker willkommen, ebenso die mitteleuropäischen Juden, die in den 20ern nach Uruguay kamen. Erst Weltwirtschaftskrise und Machtwechsel in Montevideo erschwerten in den 30ern die Immigration. Ihre Ausbildung verhalf den Juden bald zu bescheidenem Reichtum, der es erlaubte, dass statt sechs nur noch drei und später eine Familie in den 100-Quadratmeter-Häusern wohnte. Was die Menschen heute von jener Zeit erinnern, sind vor allem die offenen Türen: Bis in die 70er-Jahre, als die Wohlhabenden in die strandnahen Viertel umzogen, muss hier ein einzigartiges Schtetl mit Tango, Mate und Churrasco existiert haben.

An einem Novembertag 1999 auf der Calle de la Democracia erinnert nichts mehr an das geschäftige Treiben der 30er-, 40er-, 50er-Jahre. Die Straße ist wie leer gefegt, kaum Menschen, selten Autos, viele Hauseingänge sind verrammelt. Auf dem kurzen Straßenabschnitt zwischen der verwaisten Theodor-Herzl-Schule, in der heute der Barrio-Polizist seinem deutschen Schäferhund Auslauf gewährt, und der Bar Restrepo vier Ecken weiter hat Mischa Kuball 22 verlassene Häuser mit 22 grünen Lampen markiert. Ihr schwaches Licht auf den Fassaden erinnert an beide Teile der Geschichte: die Hoffnungen der Ankommenden, die sich für viele trotz großer Verluste erfüllt haben, und die Leere nach ihrer Abwanderung, sei es an den Strand oder nach Israel, die für das Viertel den Verlust eines Stücks europäischer Geistesgeschichte und lebendigen multiethnischen Zusammenlebens bedeutet. Noch erzählen die Schilder auf der unverändert zweistöckigen Einkaufsstraße davon: Povdereskiys Kleidermarkt ist da neben Fabers Laden für alles, Jaime Schnapp besorgt die Bestattungen, Slocki die Lebensmittel. Früher sei an jeder Ecke ein Deli gewesen, erzählt Walter Atunes, der das lokale Fußball-Fanzine über zehn Jahre zum Stadtteilblatt gemausert hat und sich, wie viele Urugayer, mit vier Paralleljobs über Wasser hält. Die Alten des Viertels können von jeder beleuchteten Tür in der Calle de la Democracia eine Geschichte erzählen. Den englischen Titel „greenlight“ verstehen sie nicht, aber interpretieren ihn sofort in ihrem Bezugssystem: ja, grün hinter der Ohren seien die Leute gewesen, als sie von den Schiffen in die Neue Welt stiegen: „grihne Leit“ eben. Als hätte der historische Zufall Phonetik-Scrabble gespielt.

Vergangenheitsbewältigung sei kein deutsches Vorrecht, heißt es in der Ex-Militärdiktatur

Kuballs Arbeit ist nicht die erste, die Kunst in den öffentlichen Raum des Barrios trägt. Anfang der 90er hatten Studenten der Kunsthochschule einen Straßenzug bunt bemalt und mit handgemachten Blumentöpfen versehen. Dieses dekorative Element ist bestimmend für das uruguayische Verständnis von Kunst im öffentlichen Raum, das im Wesentlichen auf Reiterstandbildern des Nationalhelden José Artigas basiert. Auch die urbanen Interventionen zeitgenössischer Künstler arbeiten sich überwiegend an diesen ab, wenngleich ironisch. Mischa Kuball, der außerordentliche kommunikative Fähigkeiten besitzt, wird da im Ausdruck etwas steif: „Ich persönlich opponiere gegen die Möblierung des öffentlichen Raums“, teilte er den Künstlerkollegen bei einer Podiumsdiskussion zum Thema mit.

Die Eröffnung von „greenlight“ opponierte hingegen mit der Idee einer minimalistischen Invasion – nicht aber mit dem Wunsch nach dynamischer Übernahme der Kunst durch die Lebenden. Das marginalisierte Barrio gönnte sich ein handfestes Straßenfest. Um halb acht wurden vier kleine Flutscheinwerfer eingeschaltet, Kinder turnten kreischend über den Bordstein, Jugendliche patrouillierten mit Mountainbikes, und aus Boxen, die der Lebensmittelhändler mit Strom versorgte, tönte laut Milonga.

Eine Stunde später ein seltener Auftritt, Applaus und Bravos: Mariano Arana, Bürgermeister der Stadt und Vertreter des Bündnisses Frente Amplio, auf das auch viele Bewohner hier die sich nicht bestätigen sollende Hoffnung der nationalen Regierungsübernahme am 28. November setzten, rief ein themennahes „Viva la democracia!“ in die Gemeinde. Vergangenheitsbewältigung sei kein deutsches Vorrecht, betonte die Kunstkritikerin Alicia Haber, auch der Ex-Militärdiktatur stünde sie gut an. Mischa Kuballs Installation beschwört die Erinnerung, erklärt José David, und „diese Nacht, 44. Tage vor dem neuen Jahrtausend, wird in die Geschichte dies Barrios eingehen“. Der Künstler selbst machte in einer sympathischen Ansprache ob der ungeübten spanischen Aussprache 100 Jahre zu 100 Anussen. Da dankte Arana dem schönen Halbmond über den Dächern. Die grünen Lampen aber leuchteten mit der bescheidenen Gewissheit, dass sie, auch wenn jener schon längst unter, die Scheinwerfer aus und die helle Sonne wieder aufgegangen ist, ihr Licht auf die Calle de la Democracia werfen würden.