Oh je, du fröhliche ...

■  Zu den Feiertagen kehren fast alle in den Schoß ihrer Sippschaft zurück. Wie dabei der Christbaum auszusehen hat und welche Deko richtig festlich ist, bleibt aber Glaubenssache

Was für eine Welt: Nichts ist mehr heilig, und Schuld daran sind bestimmt die 68er. „Plötzlich sind wir ein Volk von Lockeren“, wunderte sich zuletzt Harald Schmidt über die angeblich so schrecklich freien Sitten. Alles erlaubt – wirklich wahr?

Nicht ganz. Mindestens einmal im Jahr spielen fast alle die intakte Kleinfamilie, als ob nichts gewesen wäre: an Heiligabend. Kaum einer, der zum Fest nicht in den Schoß seiner Sippschaft zurückkehrt. In den Wohnzimmerstuben quer durch die Republik wiederholen sich an diesem Tage eigentümliche Rituale, die sich über die Jahre bei Bescherung und Festschmaus eingeschliffen haben. Bei einem meiner WG-Mitbewohner zu Hause begleitet der Vater zum Beispiel den Familienchor jedes Jahr mit seiner Mundharmonika.

Mit dem Dekor fürs Ganze verhält es sich ganz ähnlich: In vielen Familien wird etwa der Christbaum immer erst in letzter Minute hektisch mit Strohsternen, Kerzen und Glaskugeln geschmückt, wenn die Oma schon die Treppe hochkommt – der Haussegen hängt dann schon schief, bevor das Fest richtig losgegangen ist. Andere dekorieren ihre Tanne stets aufs Neue mit Mercedessternen und Joints. Mein Vater kramt stattdessen lieber die im Vorjahr übrig gebliebenen Utensilien aus einer verstaubten Kiste vor. Den alten Weihnachtsschmuck zu recyceln ist auch am Billigsten – mit dieser Begründung wurde jedenfalls den Bremerhavener Sozialhilfeempfängern vor zwei Jahren die Weihnachtshilfe auf 83 Mark gekürzt; in Berlin liegt der Satz derweil bei 125 Mark, plus 60 Mark pro Kind.

Eine Umfrage in der taz spiegelt die Geschmachsverwirrung wider, die weihnachtliche Gefühle hervorrufen können: Frische Blumen statt Deko-Schnickschnack gönnt sich etwa taz-Mitarbeiterin Susanne. Wenn es festlicher sein soll, stellt sie einfach ihren Zimmerbrunnen an, ein plastenes Ungetüm mit giftgrüner Schale und durchsichtiger Pyramide oben drauf, in der das Wasser hochsteigt und gelbe Wellen schlägt. „Besonders weihnachtlich sieht es aus, wenn ich dazu die Diskokugel an der Decke anmache.“ Zu Heiligabend fährt Susanne aber natürlich zu ihrer Mutter nach Erlangen – und das sogar liebend gerne.

Auch ihr Kollege Manfred ist dann normalerweise bei der Mama, am Bodensee – nur dieses Jahr nicht: Weil sein Bruder nicht kommen kann, hat er seine Mutter überredet, zum ersten Mal in Berlin Weihnachten zu feiern – mit Tannenbaum und dazugehörigen Lichterketten. Ob es allerdings einen Adventskranz geben wird, muss er noch mit seiner Freundin klären. Die Familienfeierlichkeiten von früher hat Manfred als „recht prosaisch“ in Erinnerung: Erst gab es eine halbe Stunde Bescherung, dann wurden zwei Lieder gesungen und das erste Bier aufgemacht – später nachts zog er mit seinem Bruder los, um alte Freunde zu treffen.

Der mit allerlei Krimskrams behangene Tannenbaum steht gewöhnlich im Mittelpunkt der familiären Gemütlichkeit; wie gehabt ist er das beliebteste Requisit zum heiligen Fest: Statistisch kauft fast jeder dritte Deutsche zu Weihnachten einen Baum. In Berlin sind die Preise in diesem Winter so niedrig wie selten.

Doch Vorsicht ist geboten: Edel- und Blautannen seien zu vermeiden, rät der Naturschutzbund. Denn sie würden häufig auf Plantagen unter Einsatz von Pflanzenschutzmitteln gezüchtet – besser seien heimische Fichten, Kiefern und Tannen vom Förster. Anstelle blei- oder PVC-haltigen Lamettas und des ganzen modernen Kunststoff-Tinnefs empfiehlt der Naturschutzbund zudem Figuren aus Holz, Stroh oder Papier.

Alles Plastik beim letzten Verschwendungsfest unserer Kultur? Auf der Konsumgütermesse „Premiere“ wurde Anfang des Jahres eigentlich bereits alles zu der Frage gesagt: „Der Trend lautet entweder möglichst schrill und bunt oder streng traditionell.“ In die erste Kategorie fallen sicherlich die nach Gummibärchen duftenden Kerzen ebenso wie Pinguine als Baum-Accessoires. Auch bei Weihnachtssternen sind inzwischen neben dem klassischen Rot andere Farben gefragt: von Creme- und Lachs bis zu Rosa und Pink. Manche schwören allerdings schon aus Prinzip weiter auf die verblichenen Holzfiguren, die der Vater einst eigenhändig gebastelt hat, oder auch auf handgemachte Krippenspiele und Nussknacker direkt aus dem Erzgebirge.

Richtige Weihnachtsmänner haben es dagegen heutzutage schwer: Nicht zuletzt wegen der Konkurrenz durch „Plastik-Weihnachten“ seien sie nicht mehr so gefragt, meint Jörg Schöpfel von der studentischen Arbeitsvermittlung Tusma. „Wir bieten ein echtes Erlebnis an“, der Preis von 50 Mark für einen Weihnachtsmann zum Anfassen sei aber vielen inzwischen zu hoch.

Derweil hängen immer mehr Geschäfte und Kaufhäuser ihre Weihnachtsdekoration immer früher auf. Man gehorche damit Volkes Wille, behauptet Hubertus Pellengahr, Sprecher des Hauptverbandes des Deutschen Einzelhandels. „Wenn die Kunden schon zu Ostern Weihnachtsmänner wollen, würden die Geschäfte das auch machen.“ Oh je, du Fröhliche, was für Aussichten! Ole Schulz