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: Mayor Art

■ Taugt Giuliani zum Readymade? Das Pissoir und der Elefantendungskandal

Gleich vorneweg das Bekenntnis, nicht alles verstanden zu haben. So freundlich und gelassen leitet der Autor Calvin Tomkins, seit 1960 Kunstkritiker des New Yorker seine Duchamp-Biografie ein. Obwohl der begeisterte Schachspieler Marcel Duchamp anscheinend alles unternahm, um nicht in den Verdacht zu geraten, ein Künstler zu sein, steckt der Keim des Readymade heute einfach überall.

Während Duchamps Pissoir mit dem Titel „Fontaine“ bei seiner geplanten Erstpräsentation 1917 in einer juryfreien Ausstellung ausjuriert wurde, springen die zeitgenössischen Ausstellungsbesucher und Kuratoren gern auf Carsten Höllers altmodisches Kettenkarusell in den Berliner Kunstwerken. Und auf dem Art Forum Berlin essen sie fernöstliche Fertiggerichte am Speisewagen der Galerie neugeriemschneider. Die Readymades des Verächters der Netzhautkunst haben sich offenbar überwiegend retinal und geschmackvoll entwickelt.

Calvin Tomkins umkreist dagegen die Zeit, in die das Ende des Glaubens von der Unfehlbarkeit der Naturwissenschaft fällt, und widmet sich den Einflüssen, die Duchamp durch andere Künstler erhielt. Durch Raymond Roussel zum Beispiel, Schriftsteller, Klavierspieler und Schachtalent, der mit seinem Theaterstück „Impressions d'Afrique“ impulsgebend für das Entstehen von Duchamps späterem Hauptwerk „Die Braut von ihren Junggesellen entkleidert, sogar“ war. Roussels Stück ist voller Wortspiele, Homophone und Stegreifsätze, die allen möglichen Verwandlungen unterzogen werden und zu absurden Verzerrungen der Realität führen. Vor allem aber – und das beeindruckte Duchamp am meisten – hat es kaum Ähnlichkeit mit dem Werk irgendeines anderen Schriftstellers der Zeit.

Tomkins beschreibt die Weggefährten, Freunde und Bekannten des Künstlers und entmystifiziert auf eine sehr sympathische Weise dessen bislang von komplizierten Interpretationen verstelltes Werk. Dadurch wird es allerdings nicht schlechter, im Gegenteil. Psychologische Deutungen von Duchamps Inzestschuld bezüglich seiner Schwester Suzanne, um nur eine der gewagten Theorien zu nennen, wendet er freundlich, aber bestimmt zurück auf den Urheber dieser Theorie. Warum das Bild „Akt, die Treppe heruntersteigend“ ausgestellt in New York 1913 beim Publikum riesige Empörung hervorrief, wird schließlich auch nachvollziehbar.

Heute nun versuchte der New Yorker Bürgermeister Giuliani dem Brooklyn-Museum die Gelder zu streichen, weil in der „Sensation“-Ausstellung ein mit Elefantendung verziertes Marienbildnis zu sehen ist. Ich für meinen Teil vermute ja, dass Sammler mit dem Bürgermeister ein Abkommen getroffen haben, diesen Skandal zu inszenieren, um den Preis der neuen englischen Kunst hoch zu halten. Hinter verschlossener Tür wurde ihm ein Prozentsatz vom Erlös beim Wiederverkauf der ausgestellten Werke versprochen.

Darüber müsste eine Theorie zu schreiben sein: Kunst und die Marktgesetze im Zusammenhang mit dem Elefantendungskandal, der sich im Nachhinein als ein konzeptioneller Geniestreich eines Abkommens zwischen Künstlern und Politikern entpuppte. Oder der Bürgermeister von New York will sich langfristig zum einflussreichsten Readymade der Kunstgeschichte entwickeln.

Wolfgang Müller

Calvin Tomkins: „Marcel Duchamp, eine Biographie“. Hanser Verlag, München 1999. 608 Seiten, 68 DM