Kinderärzte schlagen Alarm

■  Der Weddinger Kinderarzt Rolf Kühnelt warnt gemeinsam mit 120 KollegInnen vor dem weiteren sozialen Abstieg des Berliner Bezirks: „Die Anzahl sozial bedingter Erkrankungen steigt extrem“

„Die Eltern sind mit ihren eigenen Problemen so beschäftigt, dass für die Kinder keine Aufmerksamkeit übrig bleibt“

Der fünfjährige Mark springt von der Liege in der Mitte des Sprechzimmers, die mit rotlackiertem Holz als Eisenbahn verkleidet ist. Er rennt bis zur Leiter, klettert wieder auf die Lok. „Komm mal her, ich will kurz in dich reinhören“, sagt Kinderarzt Rolf Kühnelt bereits zum zweiten Mal und winkt mit seinem Stethoskop. Doch den Knirps mit dem dunklen Wuschelkopf interessiert das nicht. „Mark, der Doktor muss dich untersuchen“, sagt die Mutter in gereiztem Ton. Der Junge rennt weiter.

„Das ist ein ganz typischer Fall“, sagt Kühnelt später, nachdem er den unruhigen Knirps gepackt, auf die Liege gesetzt und eine Grippe diagnostiziert hat. „Der Junge kann nicht ruhig sitzen, und auf seine Mutter hört er nicht.“ Kinder wie Mark kommen immer häufiger in die Praxis, die Kühnelt seit 16 Jahren im Wedding, einem von Berlins innerstädtischen Problembezirken, betreibt.

In den vergangenen zwei, drei Jahren hat der Kinderarzt dort deutliche Veränderungen registriert. Verhaltensauffälligkeiten wie Aggressivität, Konzentrationsunfähigkeit und Lustlosigkeit der Kinder nehmen zu. Probleme bei der Sprachentwicklung, Essstörungen, chronische Kopf- und Bauchschmerzen häufen sich. „Das sind sozial bedingte psychosomatische Krankheiten“, sagt der 49-jährige Mediziner. Kühnelt ist nicht der einzige Kinderarzt im Bezirk, dem die Veränderungen beim Weddinger Nachwuchs Sorgen machen. Gemeinsam mit einem Kollegen aus dem Öffentlichen Gesundheitsdienst hat er deshalb den „Appell Weddinger Kinderärzte“ verfasst. „Mit Besorgnis sehen wir den zunehmenden sozialen Niedergang des Bezirks, der besonders Kinder als schwächstes und empfindlichstes Glied der Gesellschaft trifft“, heißt es darin. 120 KollegInnen haben bereits unterschrieben. Sie fordern von der Politik, endlich den sozialen Absturz des Weddings aufzuhalten.

Denn in hoher Arbeitslosigkeit, zunehmender Armut und schlechten Wohnbedingungen, aber auch in Trennungen der Eltern und Gewalt in der Familie sehen die ÄrztInnen die Ursache für die Gesundheitsprobleme der Weddinger Kids. Die Kinder würden zudem durch Drogenkonum, Alkoholerkrankungen und starkes Rauchen ihrer Eltern belastet. Im Wedding ist ein Fünftel der Bevölkerung arbeitslos, ebenfalls ein Fünftel lebt von der Sozialhilfe. Bei Kindern unter sieben Jahren sind es sogar 41 Prozent. Überdurchschnittlich viele Männer sterben hier an Lungenkrebs, überdurchschnittlich viele Frauen an Leberzirrhose. „Die Leute sind mit ihren eigenen Problemen so beschäftigt, dass für die Kinder nichts mehr übrig bleibt“, sagt Kühnelt und eilt durch die große Flügeltür ins Nebenzimmer.

Der siebenjährige Öcan, der mit Vater und Bruder gekommen ist, macht noch immer ins Bett. Kurze Zeit später liegt er mit hochgeschobenen Pulli auf der Liege, Kühnelt fährt ihm langsam mit dem Ultraschallgerät über den Bauch. „Die Nieren sehen gut aus“, sagt der Arzt, „das muss andere Ursachen haben. Versuchen wir es erst mal mit einem Weckapparat.“ Hanife, Kühnelts türkischsprachige Arzthelferin, übersetzt die Anwendung des Geräts, das klingelt, wenn Flüssigkeit in die Hose eindringt. Ihr war längst klar, dass Öcans Problem nicht die Nieren sind. Seine Mutter hat erzählt, dass ihr Mann sie vor den Kindern schlägt und beschimpft. „Die haben psychische Probleme“, sagt Hanife. Ihr Chef nickt.

Zwei U-Bahn-Stationen von Kühnelts Prxis entfernt sitzt der bezirkliche Kinder- und Jugendgesundheitsdienst (KJGD). Am Ende eines langen Gangs arbeitet Thomas Abel, der zweite Initiator des Kinderarzt-Appells, in einer Beratungsstelle für so genannte Risikokinder. Abel sorgt vor allem, dass die Kinder keine soziale Kompetenz mehr erlernen. „Zu uns kommen Eltern, die sprechen nicht mit ihren Kindern, die lächeln sie noch nicht einmal an.“ Die Kinder würden von den Eltern häufig nicht wahrgenommen, weil diese von der eigenen Lebensbewältigung überfordert sind. „Und diese Hilflosigkeit geben sie weiter von Generation zu Generation.“ Abel muss häufig ganz einfache Dinge vermitteln: dass man Kinder nicht an die Kante des Wickeltisches legt, wie Säuglingsnahrung zubereitet wird oder dass es Sache der Eltern und nicht die des Kindes ist zu entscheiden, ob das Essen aus Gemüse oder Grießbrei besteht. „Der Bedarf nach solchen Beratungen nimmt zu“, sagt Abel. Doch der bezirkliche KJGD sei in den vergangenen Jahren nicht aufgestockt, sondern reduziert worden. „Das müssen die niedergelassen Ärzte auffangen, aber das können sie nicht.“

Rolf Kühnelt fehlt die Zeit für solche Beratungen. Die Termine in seiner Praxis werden im Viertelstundentakt vergeben. Die akuten Fälle – von denen es in der Grippezeit viele gibt – schieben die Arzthelferinnen dazwischen. Das Wartezimmer ist voll, die Stimmung gereizt. „Wir müssen ständig Streit schlichten“, sagt der Kinderarzt und erzählt, wie er zwei prügelnde Mütter im Wartezimmer getrennt hat.

„Immer mehr Kinder werden wegen Bagetellfragen vorgestellt“, sagt Kühnelt. „Manche Mütter bringen ihr Kind zweimal die Woche nur zum Fiebermessen zu uns, weil sie die Zahlen nicht lesen können.“ Einige Eltern kommen mit ihren Sprösslingen 15- bis 20-mal im Quartal, das zahlen die gesetzlichen Krankenkassen nicht. Obwohl er heute „eher mehr als früher arbeitet“, ist Kühnelts Einkommen in den vergangenen Jahren fast um ein Drittel gesunken. Die wenigen PrivatpatientInnen, die die Praxis früher hatte, sind aus dem Wedding weggezogen. Viele von Kühnelts Kollegen haben inzwischen das Handtuch geworfen. Das will der Kinderarzt auf keinen Fall: „Dafür gibt es hier viel zu viel zu tun.“

Sabine am Orde

Die Namen der Kinder sind geändert