BERLIN - VON KENNERN FÜR KENNERHerr Lottmann sucht und findet die Magie

Natalie Tenbergs Gastro- und Gesellschaftskritik: Der Erfinder der deutschen Popliteratur kehrt an den Ort seiner Tat zurück – die Kantine des BE

Joachim Lottmann setzt sich an einen Tisch und blättert in einem Heft für Gebrauchtwagen. Es ist Samstag, halb sechs. Wir sitzen in der spärlich besuchten Kantine des Berliner Ensembles in Berlin-Mitte, in der große Teile von Lottmanns Roman „Deutsche Einheit“ spielen.

Lottmann gilt (sich) als Erfinder der deutschen Popliteratur. 1995 schrieb er das (1999 erschienene) Buch über einen Literaturbetriebs-Parasiten, der sich durch Kultur-Berlin schwadroniert und eben auch durch die Kantine des BE. Seither musste die dunkle Ost-Ausstattung des großen Kellerlokals einem semi-schicken, robusten Interieur weichen. Claus Peymann selbst versteigerte das Vormaterial. Zwei Farben Neonlicht, weiß und blau, leuchten die Schwarz-Weiß-Fotografien von Aufführungen an der Wand an. Graue Tische, verrauchte Luft, unordentlich gepolsterte rote Bänke.

Doch die Magie des Ortes, diagnostiziert Lottmann, sei erhalten geblieben. Es seien auch immer noch die gleichen Gesichter wie eh und je zu finden: Touristen in der Ecke, angezogen von der Legende des BE, ein junger Mann mit schwarzem Samtanzug, sich der Schwermut hingebend. Harry, der Koch, sitzt an der ersten Säule, ehemals Stammplatz von Helene Weigel. Die aparte Christina Drechsler, vom bemützten Kopf bis Fuß ganz in Schwarz, kommt hereingeweht und kauft ein Erfrischungsgetränk. „Ich wohne hier“, sagt sie. Den ganzen Tag sei man ja am Theater, die halbe Nacht auch, da würde die Kantine zum Zuhause.

Je näher die Aufführung rückt, desto häufiger scheppern Durchsagen aus den Lautsprechern. Boris soll kommen, man sollte nicht mehr über die Vorbühne gehen. Herr Lottmann möchte derweil jenseits der 18-Uhr-Schallmauer frühstücken, bedient sich zwischen Aufschnitt und Kasse mäandernd am Buffet: belegte Brötchen, Butter und Nutella gibt es in Flugzeuggrößen. Auf dem Käseteller welkt unter Cellophan ein Salatblatt. Der Kaffee, schwarz, schmeckt Lottmann nicht, das Brötchen sei zu laff und das Ei schlecht abgeschreckt. Dafür sind die Frikadellen perfekt. Saftig und nicht überwürzt. Da drüben habe Heiner Müller immer gesessen, umringt von Frauen, erzählt Lottmann und deutet auf die Wand gegenüber dem Eingang, wo ein Mann mit Herrenhandtasche Platz genommen hat. Wie war das mit den gleichen Gesichtern?

Eine Stunde vor Vorstellungsbeginn ist der Laden knallvoll, heiß und hektisch, Lottmann möchte plötzlich so schnell wie möglich weg. Nicht ins BE, sondern ins Kino.

KANTINE IM BERLINER ENSEMBLE, Bertolt-Brecht-Platz 1, 10117 Berlin, (0 30) 28 40 81 17, U-/S-Bahn Friedrichstraße, Mo.–Sa. 9–24 Uhr, So. 16–24 Uhr, Hauptgerichte ab 12 Uhr, z. B. Fischcurry 4,10 €, Cola 2 €