Für Unterdrückung und Mauer nicht mehr verantwortlich

■ Die sozialistischen Enkel schmieden Pläne für eine gesamtdeutsche Partei – und zwar am liebsten ohne Oma und Opa vom alten SED-Kader

Hier glaubt man an Wunder, an die Jungfrauengeburt und an die Unfehlbarkeit des Papstes. Auch hier ist die PDS eingedrungen, wenn auch nur auf Einladung. Im katholischen Roncalli-Haus in Magdeburg ziehen Bildungsbürger mit schütterem Haar und feingliedrigen Händen ihre Stirne kraus und grübeln über die neuen alten Genossen. Sie meditieren am Morgen, diskutieren am Mittag, feiern am Abend, ein Wochenende lang. „Wie hältst du's mit der PDS?“, ist die Frage aller Fragen, die ausgerechnet eine Organisation der kirchlichen Konkurrenz, die Evangelische Akademie, in dem päpstlichen Gemäuer stellt.

Heute führt die Frage Bürgerrechtler und Genossen zusammen. Eigentlich. Der Alt-Oppositionelle Wolfgang Templin zieht vorm Podium seine Bahn, blickt auf Zettel, zum Parkett, zur Uhr. Der Bündnisgrüne Hans-Jochen Tschiche erscheint. Umarmung. Wo sind die Genossen der PDS? Wo ist der Gegner? Der lässt sich Zeit, schlendert herein, ist schmächtig, lächelt und könnte der Enkel von Hans-Jochen oder der Sohn von Wolfgang sein. Oder von Gregor Gysi. Nickelbrille, Stupsnase, halb so alt wie der gepflegte Zampano aus Berlin und mit zehnfacher Haarpracht gesegnet: Matthias Gärtner, Fraktionsvize der PDS im Magdeburger Landtag, fast noch Gymnasiast, ein netter Kerl, keine bunten Haare, keine gepiercten Knöpfe im Gesicht und bestimmt immer gute Noten. So einer macht Mutti wenig Sorgen. Und ist ehrlich: „Ja, meine Damen und Herren, 1989 war ich 16 Jahre alt und Offiziersbewerber.“

Hier stellt einer klar. „Eines mache ich: Ich gestehe Menschen zu, dass sie sich ändern können.“ Eine lässliche Jugendsünde war das mit der Armee, sonst nichts. Da konnte Wolfgang Templin die SED, die DDR, die Stasi noch so geißeln. Mit sonorer Stimme, eingezogenem Kopf und fest nach innen gerichtetem Blick von „undemokratischer Ursubstanz“ sprechen und und beschwören: „Die PDS muss sich bemühen, den Rucksack der Geschichte loszuwerden!“

Als die SED diesen Rucksack packte, lag Matthias Gärtner noch in Windeln. Heute verfügt der Knabe über eine zweifache Gnade: Späte Geburt und kurze Biografie. So einen kann man kaum für Unterdrückung und Mauer verantwortlich machen. Und doch redet Gärtner von Läuterung: „Wenn etwas gelernt wurde in dieser Partei, dann der Streit bis zum Exzess!“ Und knüpft geschwind lange Wörter: Erfahrungsprozess, Auseinandersetzung, Kompromiss, Veränderungsprozess.

Matthias Gärtner redet, als ob er Examen ablegen muss. Nein, das sei kein Sozialismus in der DDR gewesen. Man sei doch heute in der PDS viel kritischer gegenüber der DDR als jeder Stammtisch. „Die reden doch: Unter Honni ging's uns gut, da hatten wir Arbeit!“ Kritik müsse aber sein. „Wenn wir das nicht schaffen, werden wir keine gesamtdeutsche sozialistische Partei.“ Matthias Gärtner redet und redet, die anderen schweigen, das Kinn bedächtig auf die Hand gestützt. Da streckt der Enkel die Hand nach fremdem Erbe aus: „Wir machen genau das, was Herr Templin auch macht – anknüpfen an die Tradition der Bürgerrechte.“ Kein Murren?

Na, da kann Matthias Gärtner die DDR-Opposition gleich ins politische Grab stoßen: „Es tut mir leid, Ihr seid an einem bestimmten Punkt stehen geblieben und genauso nostalgisch wie bestimmte Leuten in der anderen Ecke!“ Applaus! Zwischen dem fein gewandeten Publikum klatscht auch eine Handvoll grauhaariger Herren.

„Bitte, entschuldige, Wölfchen!“ Hans-Jochen Tschiche neigt sich zu Templin, dann gönnt er sich einen kleinen Verrat: „Manche können sich nicht vorstellen, dass PDS-Leute sich gewandelt haben. Sie wähnen dunkle Strategen am Werk.“ Das sei so wie bei der SED damals, die auch nicht begreifen konnte, dass man in der DDR ganz von allein eigene Gedanken entwickeln konnte und deswegen ständig westliche Geheimdienste am Werke glaubte. „Wenn man der Meinung ist, dass sich ein ganzes Volk wandeln kann, muss ich das auch einer Partei zugestehen.“ Natürlich sei die PDS auch ein selbstgerechter Haufen. „Solange sie in der Opposition ist, hat sie eben immer Recht!“

Da geht die Tür auf, Petra Sitte stürmt herein: Halstuch, Rucksack, glänzende Boots, Gel im Haar – als ob die Fraktionsvorsitzende der PDS geradewegs aus dem Fitness-Studio kommt. Verstärkung für das Podium, Verjüngung sowieso. Templin und Tschiche sehen noch älter aus.

Und doch drosselt Petra Sitte das Tempo, das der Junggenosse vor ihr hingelegt hat: „PDS – Partei der Bürgerrechte? Nein, der Begriff ist besetzt.“ Und das Etikett „Partei der sozialen Gerechtigkeit“ führe zu falschen Erwartungen. „Ich will, dass Menschenrechte besser umgesetzt werden.“ Sie redet von Flüchtlingspolitik, vom Schutz der Ausländer. Petra Sitte spricht viel von Mehrheiten und Demokratie, präsentiert die geräumte Waffenkammer der Revolution: „Es wird keinen Schuss von der 'Aurora‘ mehr geben!“ Statt von Leninscher Avantgarde träumt Petra Sitte von der sozialistischen Partei für ganz Deutschland. „Ich weiss nicht, wo die PDS in zehn Jahren steht. Ich weiss nur, wo ich sie hinhaben will.“

Das interessiert die grauen Herren in den Konfektionshosen nicht. „Wie hält es die PDS mit den Politbüro-Prozessen der Gerichte der BRD?“ Einer ist aufgestanden, da steckt dann Kraft hinter so einer Frage. „Ich halte die Prozesse nicht für nötig.“ Matthias Gärtner klammert sich mit beiden Händen an das Mikro. „Hier werden Märtyrer geschaffen. Mich widern diese Leute an.“ Prozesse seien nicht die geeignete Form der Auseinandersetzung, schließlich können sich diese Leute dahinter verstecken. Geschafft! Das Mikro liegt wieder auf dem Tisch.

Kein Applaus, kein Unmut. Verurteilt und doch nicht in den Knast. Aus den Sätzen Gärtners kann sich jeder das picken, was er für sein privates Weltbild braucht. Die Partei zimmert gerade an einem neuen. Für heute hat der Junggenosse den Spagat hingekriegt.

Matthias Gärtner sitzt wieder in seinem Büro. Rote Socken baumeln hier wie anderswo Nikolausstrümpfe. Auch ein roter Schal hängt an der Wand, doch nicht von der CDU, sondern ein Gruß von Manchester United. „Ich weiß nicht, wie eine moderne PDS aussieht. Ich weiß nur, dass wir hier in Sachsen-Anhalt bis 2004 die Hälfte der Mitglieder verlieren werden. Aus Altersgründen.“

Die Genossen werden sich auf Beerdigungen treffen. Wenn die PDS nicht aufpasst, könnte sie nahezu aussterben, trotz Gärtner, Gysi und Sitte. Bei den Jungwählern hat auch die PDS verloren. „Die Jugendlichen müssen wir erreichen. Wir brauchen neue Strukturen und müssen Themenarbeit anbieten.“ Doch ausgerechnet jetzt wollen alte Kader wieder mitmachen. Für Karriere ist die PDS wieder eine Adresse. „Die sind 89 beim Staats-Sozialismus stehen geblieben und denken, mit ein bisschen sozialer Gerechtigkeit sind sie wieder obenauf.“

Damit ist die Jugend nicht zu ködern. Und der Westen auch nicht. „Für den werden wir erst interessant, wenn wir hier in der Gesellschaft richtig angekommen sind.“ Matthias Gärtner korrigiert: „Ankommen heißt ja nicht, alles hier zu akzeptieren!“ Vorige Woche feierte Matthias Gärtner seinen 26. Geburtstag. Mit den Alten sei das schwierig, die brauchen halt ihr kuscheliges Kaffeekränzchen PDS noch, entschuldigt er sich. „Doch es muss auch die Partei des neuen Jahrtausends werden!“ Das klang noch nicht mal demagogisch.

Erster Meilenstein im Jahrtausend der PDS ist 2002. Dann sind wieder Wahlen in Sachsen-Anhalt, mit Aussicht auf eine rot-rote Regierung. Das werden auch die überlebenden Parteirentner feiern.

Thomas Gerlach, Magdeburg