Handgepäck für das nächste Jahrtausend
: Sorgen machen in der Alten Welt

■ Städte sollen Bürgersteige behalten und Eisenbahnen am liebsten wirkliche Lokomotivführer: Konservative Sehnsüchte eines 20th-Century-Girl

Für den Freund ist die Sache einfach. Der Freund ist Amerikaner. „Aspirin, Coca-Cola and The Collected Episodes of the Simpsons!“ Sein Handgepäck fürs nächste Jahrtausend war in weniger als vier Sekunden gepackt und der einzige Zweifel formaler Art: „Oder soll man Sachen einpacken, von denen man Angst hat, sie könnten verschwinden?“ In New York City nördlich der 99. Straße aufgewachsen, versteht er einiges von Markendarwinismus. Für das Jahrtausendpackproblem der europäischen Freundin hat er hingegen zweifelhaftes Verständnis. „I guess you should take something serious. Like peace on earth.“ Fiese Logik: Das E-Gepäck bleibt für die Alte Welt. Man möchte ihm erklären, dass der Friede schon auf diversen historischen Packlisten stand, aber solche Koffer nie durch den Zoll kommen. Man entscheidet sich zu schweigen, weil man weiß, dass es in Wahrheit fehlender Sex-Appeal ist, der es 1999 dem Frieden auf Erden vereitelt, in einer Kolumne zu erscheinen.

Im Übrigen ist man gerne bereit, bescheiden ins neue Millennium zu gehen: Statt mit reisefertigen Utopien vielleicht endlich mit den Dingen, die schon lange da sind, es aus marktstrategischen Gründen aber noch in keine Handtasche geschafft haben. Laufmaschenresistente Nylonstrümpfe etwa. Oder Telefone, die anzuschließen der Telekom in weniger als vier Wochen gelingt. „Guck bei www.handbag.com“, rät die Freundin, „die haben alles, was die Frau des 21. Jahrhunderts braucht.“ Überraschenderweise scheint sich das auf Kosmetik und Weihnachtsgeschenke zu beschränken, sieht man von einer unter Umständen eines Tages wichtigen Boyfriend-Generalkatalorisierung ab (Action Man, Gourmet Man, Techno Nerd, Health Freak, Clubber, Workaholic). Die Freundin wohnt in London, wo Tommy Hilfiger in U-Bahn-Schächten Freedom flächendeckend als „A new sound in fragrance. For her. For him.“ anpreist und Kenzo „It's time for peace“ verkündet. Das verwundert eher, da in Großbritannien Frieden und Freiheit dieser Tage keines Hipnessfaktors bedürfen, um es auf die Titelseiten sämtlicher Zeitungen zu schaffen.

In Belfast werden nach Jahrzehnten wieder Schließfächer auf dem Bahnhof installiert. Um sie zu benutzen, erläutert die Freundin, muss man eine Münze und einen Fingerabdruck hinterlassen, „und zwar von einem, der noch dran ist.“ Während sie das Blutstrom lesende Gerät vorstellt, kommt erstmals eine klare Vorstellung davon auf, was unbedingt mit ins nächste Jahrtausend soll: Finger, die noch dran sind.

Dabei geht es nicht allein um den Finger an sich. Es handelt sich um die Hoffnung, dass bestimmte Konnotationen und Begriffs-/Vorstellungspaare – so naiv sie dereinst anmuten mögen – auch in der Zukunft eine gewisse Verbindlichkeit haben werden. Dass, wenn von Fingern gesprochen wird, die Hand noch mitgedacht wird; dass das Reden von Sex eine Vorstellung von Körper beinhaltet und nicht von digitalen Handschuhen; dass das Wort Buch Papier impliziert und schweigend Alphabetismus voraussetzt; dass Städte Bürgersteige einschließen und Zeitung nicht zum Synonym für Online-Shopping wird, sondern nach Information klingt.

Zugegeben, konservative Sehnsüchte eines 20th-Century-Girls. Aber sei's drum, all das soll mit: Arbeiter, die arbeiten, Brötchen, vom Bäcker gebacken, Kühe, die auf Weiden grasen. Eine persönliche Vorliebe pocht sogar auf Flugzeuge, in denen Piloten sitzen, und Züge, die einen Führer haben, am liebsten sogar einen echten Lokomotivführer. In der Geschichte des Transportwesens darf die Epoche der Autonavigation zu Gunsten eines direkten „Beam me up, Scotti!“ übersprungen werden.

New York, London und Belfast sollen im Übrigen auch mit ins nächste Jahrtausend, ebenso wie Madrid, Montevideo, Kalkutta und Schanghai. Außerdem ganz wichtig, die Entfernungen dazwischen sowie das Konzept von Entfernung an sich. Freund und Freundin werden eingepackt. Um Bart Simpson, Springfield sowie Aspirin, und das ist schön, müssen wir uns eh keine Sorgen machen.

Christiane Kühl