Am schwersten fällt das Stehen

Sumo ist nicht nur ein Sport für Monster bis zu 315 Kilogramm Lebendgewicht – auch zierliche Damen waren am Start bei der Amateur-Weltmeisterschaft im sächsischen Riesa    ■  Von Markus Völker

Emanuel Yarbrough sitzt. Eine Stunde. Zwei Stunden. Dann steht er auf, schiebt seinen Stuhl ein wenig zur Seite und setzt sich wieder. Der US-Amerikaner wiegt 315 Kilogramm. Er ist der schwerste Sumotori, der bei den Weltmeisterschaften in Riesa an den Start ging. Seine Gewichtsklasse ist die Open-Kategorie.

Stehen ist anstrengend für den 28-jährigen New Yorker Yarbrough. Zur Eröffnung des Turniers versammeln sich alle Rikishi, die Kämpfer, um den Ort der Auseinandersetzung, den Dohyo, einer aus Lehm und Ziegeln gefertigten Kampfstätte. Yarbrough steht hinter den Stars and Stripes und tänzelt von einem Bein auf das andere. Schweißtropfen perlen ihm von Stirn und Schulter. Nach der Zeremonie ist er froh, sein Lebendgewicht nicht mehr in der Vertikale halten zu müssen.

Yarbrough ist ein kleiner Star bei den Weltmeisterschaften, zu der sich die besten Amateure treffen, nicht aber die großen japanischen Rikishi wie Akebono, Musashimaru oder Takanohana. 10.000 Zuschauer an beiden Tagen bestaunen Yarbrough nicht, weil er der beste Kämpfer ist. Seine Pfunde reichen schon. Er hat einen persönlichen Betreuer an seiner Seite. Ein Azubi chauffiert ihn in einem extra umgebauten Gefährt, weil er kaum in einen normalen Bus hinein kommt. Auch Yarbroughs Hotelier hat vorgesorgt. Die Beine vom Bett ließ er lieber abschrauben. Sicherheitshalber. Beim ersten Besuch des Schwergewichts zur EM in Riesa brach noch die Schlafstatt. Yarbrough sagt lakonisch: „Sumo ist Kampfgeist ... sehr kompetitiver Sport ... mache keine Diät ... Gewicht ist meine persönliche Veranlagung.“

Es war nur eine Frage der Zeit, bis er für den Film entdeckt würde. In der Sachsenarena, der Veranstaltungshalle, wird ein Streifen parallel zur WM gedreht. Yarbrough assistiert in einer Nebenrolle. Arbeitstitel des Films: Sumo-Bruno. Es geht um ein zeitgemäßes Thema: zwei Arbeitslose in Riesa. Und die wollen beim Sumo mitmachen. Protagonist Bruno Nestroy steht kurz vor dem Sieg, aber dann siegt die Liebe über den sportlichen Ehrgeiz.

Aus 40 Ländern sind Athleten angereist. Es wird bei Frauen und Männern in vier Gewichtsklassen gekämpft. Vertreten sind alle Typen. Zierliche und korpulente Damen; muskulöse und adipöse Herren. Wobei der Schein trügen kann. Frauentrainer Wolfgang Zuckschwert klärt auf: „Alle Sumotori haben mörderische Buletten unterm Fettposter, man unterschätzt das extrem.“ Das hohe Gewicht sei kein Problem, wenn man sich wohl fühlt, versichert er.

Sumo soll olympisch werden. Vielleicht schon 2008. Osaka bemüht sich um die Austragung der Spiele. Und Antonio Samaranch mag Sportarten, die leicht zu verstehen sind. Das bietet Sumo. Tritt einer aus dem Ring oder geht er in ihm zu Boden, hat er verloren. Darüber wachen Schiedsrichter, die meist aus dem Mutterland Japan kommen. Nach Riesa ist eine Delegation von 70 Offiziellen und Halboffiziellen gereist. Akribisch wachen sie über den Ablauf, denn erstmals wird außerhalb Japans eine WM veranstaltet. Zuerst beanstanden sie dem Dohyo. 15 Zentimeter zu hoch. Dann muss neu gelost werden. Schließlich wird die Frauen-WM zu einem Weltturnier degradiert, weil nicht genug Nationen gemeldet hätten. Zuckschwert: „Seit drei Tagen sind die am Streiten, erst war der Dohyo zu hart, dann zu weich. Die machen noch alles kaputt.“

Wolfram Köhler hat Sumo in Sachsen etabliert. Der erste Bürgermeister der Stadt bezeichnet sich auch als Event-Manager. Als solcher ist ihm das strenge, puristische Regularium des Sumo zu eng. „Die Japaner melden sich schon, wenn unser Ringsprecher etwas zu laut wird“, sagt er. Sumo müsse wachsen. Wenn der Sport in Deutschland ein bisschen größer geworden ist, vielleicht in vier, fünf Jahren, könne man darüber nachdenken, die in Nippon abgöttisch verehrten japanischen Profis einzuladen. Aber, so hat sich Köhler schlau gemacht, die Teuersten wie Akebono kosten ein Vielfaches von Michael Schumacher. „Da hol ich mir lieber 20 Mal den Franz Beckenbauer nach Riesa.“

Neben Jörg Brümmer, der in der Klasse über 115 Kilogramm Bronze gewann, ist Torsten Scheibler der bekannteste deutsche Sumotori. Hierzulande finden meist ehemalige Judoka zum Sumo; eine eigene Nachwuchsarbeit gibt es nicht, und sie ist auch illusorisch. Der Sumo-Verband Deutschland (SVD) besteht erst seit eineinhalb Jahren. Scheibler, bis 1997 noch Judo-Kämpfer, wiegt fast vier Zentner, immerhin, aber damit fehlen ihm immer noch etwa 120 Kilo zum Gewicht seines Konkurrenten Yarbrough. So soll es auch bleiben, meint der Berliner, der wie viele Sumotori in der Kampfschule im Klostergarten (KiK) trainiert. „Ich esse das, was alle essen – aber das Doppelte“, sagt er. „Ich brauch nur was anzuschaun, da setzt es schon an.“ Er betont, dass er, abseits des kulinarischen Interesses der Medien, „leistungsorientiert trainiere“.

Mit Technik und Taktik wie bei den Profi-Stars ist es in der Open-Kategorie in Riesa nicht weit her. Vor allem Yarbrough vertraut statischen Kräften. Außerhalb fungiert er als eine Art Maskottchen. Er wird von vielen Sumo-Frauen geknuddelt. Männer klopfen ihm auf die Schulter. Kinder stehen Schlange für ein Autogramm. Und ein Bursche traut sich sogar, in Yarbroughs Sportschuhe zu steigen. Fast versinkt er darin.