So warm, so weich, so nah

Die PDS wird in Ostdeutschland zur dritten politischen Kraft. Allem düsteren Erbe, allen Schmähungen zum Trotz. Wie das System PDS funktioniert? Beobachtungen in der ostdeutschen Provinz  ■   Aus Sangerhausen Thomas Gerlach

In den Basisgruppen vermessen sie die Gerechtigkeitslücke und verlesen Artikel aus dem „Neuen Deutschland“

Das Wunder ereignete sich am Morgen in Sangerhausen, einer 26.000-Einwohnerstadt am Südostrand des Harzes. Angetreten waren der Bauherr, der Supermarktbetreiber, der Bäckermeister und der Fleischlieferant. Vor der Tür drängte, angelockt durch vorab angekündigte Sonderangebote, einiges Volk, die Einkaufwagen wie Geschütze auf den Eingang gerichtet.

Da erscheint Dieter Kupfernagel, greift die erste Hand, die zweite, die nächste, blickt in Augen, verströmt Ruhe, spendet Wärme. Und wo eben noch Desinfektionsdämpfe die Schleimhäute reizten, verströmt nun Backwerk wohligen Duft. Auf Neonlicht legt sich Pastell. Aufgereiht wie ein Mädchenchor stehen Verkäuferinnen artig vor der Theke, eben noch hetzten sie zwischen Regalen. Ruhe kehrt ein in die kapitalistische Kaufhalle, Wärme und Geborgenheit.

Dieter Kupfernagel hat seine Mission erfüllt, was jetzt folgt, ist Routine: Ansprache, blitzender Stahl, Schnitt, ein Band fällt, kurzer dienstlicher Applaus, Blumenstrauß, schon hat er dem Discounter die kommunale Weihe verliehen. Ein Oberbürgermeisterleben in Deutschland.

Kupfernagel lebt es seit drei Jahren und er lebt es für die PDS. „Ich bin Bürgermeister aller Sangerhäuser!“ Dieser Satz steht in Kupfernagels Glaubensbekenntnis ganz oben und er betet ihn mehrmals täglich, wenn sich Gräben auftun wollen, wenn Zweifel gesät werden. Ja, sogar wenn die neun Genossen der Stadtratsfraktion den Dieter einnehmen wollen, müsse er es ihnen bekennen, sagt der Oberbürgermeister.

In der Kaufhalle muss er nichts bekennen. „PDS oder nicht, wichtig ist, dass was für die Region herauskommt!“, ruft der Bauherr, Köpfe nicken. Hier gibt es keine Gräben. Kupfernagel, der PDS-Oberbürgermeister. Nein, nicht richtig! Er sei Bürgermeister, und nebenbei Mitglied in der PDS, rezitiert Kupfernagel einen anderen Absatz aus seinem Gebetbuch.

Im Auto rollt er zum nächsten Auftritt. „Kommunalpolitik ist die ehrlichste Politik!“ Ein weiterer Satz in Kupfernagels Katechismus. Er wirkt. Die ehrlichste Politik. Keine Machtspiele, keine Skandale, keine Paragrafenkälte, keine Rankünen. Nur ehrliche Haut, und davon ganz viel und ganz warm. „Das merken die Leute, ob ich hier meinen Job mache oder eine Show abziehe“, sprichts, parkt ein, greift die Blumen und geht ins Pflegeheim.

Frau Schmidt wartet, es ist ihr neunzigster Geburtstag. Kupfernagel: groß, weich, grau meliert, Löckchen, Nappalederjacke, ein Lächeln wie aus dem Kinderfernsehen. Geborgenheit wie ein Kachelofen verströmend. Geborgenheit, die viele so lange vermisst haben.

Frau Schmidt vermisst sie nicht. „Kennen Sie den Oberbürgermeister?“ Die Heimleiterin versucht, in Frau Schmidts Bewusstsein vorzudringen. Die alte Frau klebt auf ihrem Stuhl, vor sich eine Gehhilfe. „Ich bleibe hier!“, protestiert sie, wo es nichts zu protestieren gibt. Ihr Körper ist anwesend, lässt sich feiern, schlürft Rotkäppchen-Sekt. Ihr Geist lebt bereits in einer anderen Welt, enthoben und unendlich geborgen. Hier gibt es für Dieter Kupfernagel nichts zu tun. Frau Schmidts Seligkeit ist überparteilich und konkurrenzlos, sie hat die irdische Ungerechtigkeit überwunden – ganz ohne PDS.

Die greise Frau Schmidt ist die Ausnahme, Ditrich Holzapfel, ebenfalls Renter, doch mit Jahrgang 1938 vergleichweise jugendlich, die Regel. Seine persönliche Gerechtigkeitslücke klaffte bei der Rente, die Akten dazu hatte er im Dederonbeutel mitgeschleppt. Seit Juni sitzt der Parteilose nun für die PDS im Stadtrat. Dem ehemaligen Gütekontrolleur in der Maschinenbaufabrik „Mafa“ wurde seine Unfallrente auf die Altersrente angerechnet.

Holzapfel suchte Hilfe und fand sie im Bundestagsbüro der PDS. Bei den anderen Parteien hat er nicht gefragt. Die Sozialdemokraten haben hier kein Bundestagsmandat bekommen und der CDU-Abgeordnete sei ein Bundeswehroffizier aus dem Westen. Dem „Panzerfahrer“ vertraue hier kaum jemand.

Als Holzapfel das PDS-Bundestagsbüro anrief, nahm Axel am anderen Ende den Hörer ab, ein Kollege, mit dem er Jahrzehnte in der „Mafa“ zusammen gearbeitet hat, damals, als es noch keine Arbeitnehmer, sondern Werktätige gab. Da wurde dem Ditrich warm ums Herz. Der Axel nahm sich der Rentensache an, später fragte er: „Willst du nicht für uns für den Stadtrat kandidieren?“

„Ich habe 'ne recht ordentliche Meinung von der PDS!“, sagt Ditrich Holzapfel. Etwas unbeholfen fühlt er sich noch im Kreise seiner neuen Freunde. Sagt, dass man schon mal aneinander geraten könne, wegen der Politik. Axel mit dem Stoppelschnitt zwinkert ihm zu. Seine Augen leuchten, als habe er gerade heute den Sozialismus für sich entdeckt. Ein Kollektiv von Musketieren gegen das Unrecht dieser Welt, alle, die hier sitzen: Iris, die das Büro leitet, Klaus, der Kreisvorsitzende, Renate, die Rentnerin, und Axel, der immer von „dieser BRD“ spricht. Und natürlich auch der Dieter im Rathaus, Frank im Landtag und Uwe-Jens im Bundestag.

Nach der Wende habe man zwar auch schon über gute Ideen, aber nicht über Machtwissen verfügt, das habe sich nun geändert, frohlockt der Kreisvorsitzende. Die Leitungen nach Magdeburg, Berlin und Straßburg sind stabil und spucken Informationen in jedes PDS-Büro. Keine Partei in Sangerhausen besitzt ein schöneres Gebäude als die PDS. Große Schaufenster im Parterre, mitten in der Stadt, eine Kanzlei gegen das Unrecht, transparent, modern und immer geöffnet. Man muss nur oft genug vorbeigehen, dann verliert sich die Scheu. Egal, was früher war.

Die PDS hat seit der Wende ganze Graswurzelarbeit geleistet. Die Wohnbezirksparteiorganisationen sind zu Basisgruppen veredelt. Ein Hauch von Bürgerrecht und Befreiungstheologie weht durch Sangerhausens Plattenbausiedlungen. Dort hausen tausende Kumpel aus dem Kupferschieferbergbau mit vollen Portemonnaies und leeren Köpfen, seitdem sie vor Jahren mit Abfindung oder Bergbaurente entlassen wurden.

In Sangerhausen treffen sich monatlich drei Basisgruppen. Dort vermessen sie die Gerechtigkeitslücke und verlesen gelegentlich Artikel aus dem Neuen Deutschland mit anschließender Aussprache. Zugegeben, nur 300 Genossen sind von der alten Avantgarde übrig. Doch die PDS hat immer noch doppelt so viele Mitglieder wie die CDU und fast zehnmal mehr als die SPD. Unauffällig haben die Genossen das malade SED-Gewand aufgetrennt, gewaschen, getrocknet und neue warme Tücher gewebt, die jetzt in Ostdeutschland verteilt werden.

Eines schenkten sie Ditrich Holzapfel und der weiß, was sich gehört: „Hut ab vor denen, die den Mut aufgebracht haben, in der PDS zu bleiben!“ Solche Worte wiegen heute mehr als jeder Karl-Marx-Orden. „Die Sache an sich, die abgelaufen ist, da war ja nicht alles schlecht. Die sozialen Errungenschaften!“ Dieses Credo wiederholt auch Holzapfel, er ist kein Redner, doch seine Worte wirken. Hier und auf der Straße, zu Hause und in der Feuerwehrversammlung. Und er ist nicht der einzige.

Er hat ja seine Erfahrung mit den anderen Parteien gemacht, etwa mit dem Kreisvorsitzenden der SPD. Der habe tatsächlich noch im November 89 als SED-Funktionär beim Rat des Kreises das Parteilehrjahr abgehalten und Genossen bestrafen wollen. Ditrich Holzapfel steht fast in der Sitzgruppe, als er das erzählt. „Das kann ich einfach nicht begreifen! Das sind Dinge, die ich persönlich nicht vergesse!“ Wie ein Vorbeter faltet der Rentner die Hände. Die Genossen am Couchtisch lauschen andächtig. Angesichts dieser Vorwürfe muss man in der PDS nur lange genug durchhalten, um wieder glaubwürdig zu wirken.

Und Einsatz zeigen. Renate im Mieterschutzbund, Axel in der Behindertenarbeit und im Kleingartenverband, Iris beim Kinderschutzbund. Da pulst Aktivistenblut. „Soziale Kompetenz“ ist nur ein anderes Wort für die gute alte „gesellschaftliche Arbeit“. Und wenn Geld fehlt, hilft die Partei. Deren Abgeordnete verzichten auf ein Teil der Diäten zu Gunsten eines Solidarfonds, daraus flattern gelegentlich ein paar Blaue für die Behindertenfreizeit oder für die Kinder aus Tschernobyl, verbunden mit einem freundlichen Gruss von den Genossen.

„Bolschewistenschweine!“ – Siegbert Grießer führt das Wort offenbar täglich im Munde, doch es nutzt sich nicht ab. Frisch und scharf kommt es über die Lippen wie eine Klinge. Die Letzte, die ihm geblieben ist. Bolschewistenschweine – sein Synonym für PDS, SED, DDR und all das, was ihn betrübt. „Als die den Kupfernagel gewählt hatten, wäre ich am liebsten in die Plattensiedlungen gefahren und hätte Autos, Videorekorder und Westgeld wieder eingesammelt!“ Siegbert Grießer versteht diese Welt nicht, die sich einen DDR-Staatsbürgerkundelehrer und Schuldirektor zum Bürgermeister wählt. „Die Bergarbeiter kriegen mindestens 3.000 Mark Rente und wählen PDS, das muss man sich mal vorstellen!“ Er hat damals das Neue Forum in Sangerhausen mitbegründet, nun sitzt er für die Bürgerinitiative BIS im Rathaus.

Und dort haben CDU und SPD ein Bündnis geschmiedet gegen den gemeinsamen Feind, der sie von zwei Seiten in die Zange nimmt. Vorn sitzt der PDS-Bürgermeister, im Parkett die PDS-Fraktion, zweitstärkste nun nach der Christdemokraten. Und die kleinen Parteien? Dazwischen. Eingequetscht.

Mit der Bürgerinitiative geht es bergab. Bei den letzten Kommunalwahlen im Juni halbierte sich fast ihr Stimmenanteil, jetzt hat sie nur noch zwei Mandate. Die Gerechten von gestern sind heute Statisten. Die Sünder haben das Sagen. Was geblieben ist, ist ein Wort: Bolschewistenschweine.

Grießer grollt, und Dieter Kupfernagel schickt sich an, noch mehr Wärme in den Sangerhäuser Kosmos zu verstrahlen: Bockbieranstich bei der Brauerei mit Blasmusik und Schlachteplatte. Der Oberbürgermeister stolpert ins Zelt, er lächelt. Zu spät. Aus dem Bockbierfass spritzt bereits die schwarze Brühe. Der CDU-Landrat war schneller. Es gibt doch noch Niederlagen für die PDS.