Kapitel 5

“Geheimnisse einer jungen Liebe“
von Hanns-Josef Ortheil

Gossel war unterdessen längst wieder in seinem Büro eingetroffen. Er setzte sich hinter den Schreibtisch, zündete sich eine Zigarre an und schenkte sich einen Cognac ein.

Es war genauso gelaufen, wie er es sich vorgestellt hatte, beinahe reibungslos. Jetzt hatten sie einen Tag Zeit, sich die Köpfe heiß zu reden und ihre armseligen Vorschläge auszuarbeiten. Nichts würde dabei herauskommen, gar nichts. Ein solches Projekt musste er selbst in die Hand nehmen, bis ins letzte Detail. Mit den Protokollen des Ausschusses hatte er sie mundtot gemacht und gleichzeitig auf die falsche Fährte gelockt. Was stand schon drin, in diesen Protokollen? Nichts Neues, nichts, was für das Projekt verwendbar gewesen wäre.

Er hatte das Stichwort “Politik“ ausgegeben, damit sie die ganze Affärensuppe noch einmal umrührten: Panzergeschäfte, geheime Konten, Millionenbeträge in kleinen Scheinen... - so etwas war doch nur zum Gähnen und regte niemanden mehr auf.

Starke Emotionen, Erregung bis zum Äußersten! ...: Die Geschichte musste woanders verankert werden, in einem dunklen, geheimen Zentrum, das die Gefühle in seinen Bann zog. Becker, natürlich, instinktiv hatte der es begriffen, der war nahe dran gewesen mit seinem Einwand. “Ich sehe die Frauenrollen noch nicht“ - das war die Spur, aber die Runde hatte Beckers Gemurmel wie meist überhört.

Die Frauenrollen... - das war das eine, das andere aber war: “Die Wahrheit“, genau, ja, die Wahrheit. Die ganze Geschichte ließ sich nicht erzählen, wenn man die Wahrheit nicht wusste. Seit Monaten gab es nur Gerüchte und hohle Spekulationen, doch die letzten, erlösenden Offenbarungen waren nicht ans Licht gekommen. Kohl und die Namen der Spender, Kohl und sein innerster Zirkel - Hunderte von Journalisten waren nicht in der Lage, dieses Dunkel zu erhellen und die Sache endlich zum Abschluss zu bringen. Ohne die Auflösung aber war die Geschichte nichts wert, keinen Deut.

Das Projekt wäre ein Luftschloss wie all die anderen Doku-Serien mit ihren zurechtfrisierten Schauspielern, denen man erst Pfälzisch beibringen und vormachen musste, wie man ein Glas Wein aussoff und nicht austrank. In seinen frühen Mainzer Jahren hatte Kohl mit solchen Nummern geglänzt, in den kleinen, nach Mitternacht für seine Gefolgschaft reservierten Weinstuben der Altstadt...

Wegen solcher Geschichten bewunderten ihn heute noch viele, denen ein solches Mannsbild lieber war als ein Typ wie der säuerliche Herr Schäuble, der erst seine Paragraphenblättchen durchwühlte, um herauszufinden, ob er nach Mitternacht noch Wein trinken durfte. Wie Kohl den vorgeführt hatte, das war große Klasse gewesen, perfekt inszeniert und genau abgestimmt aufs breite Publikum, das Schäuble ja sowieso nur als lästig empfunden hatte, mit all seiner schwunglosen Juristenrhetorik.

Ja, man durfte nicht unterschätzen, dass Kohl vielen noch immer sympathisch war, trotz all seiner Geldmachenschaften, die in Deutschland jeder Malermeister beherrschte und besser abgewickelt hätte als Kohl. Der hatte das alles zu leicht genommen und lauter Dilettanten für sich arbeiten lassen, Leute wie Weyrauch oder Terlinden, schon die Namen waren ja eine einzige Katastrophe.

Das Mannsbild aus Oggersheim - man musste die letzten noch vorhandenen Restsympathien des Publikums ernst nehmen und ihm langsam, Schritt für Schritt, alle Illusionen rauben, die es sich noch über Kohl machte. Am Ende musste er splitternackt dastehen, eine hilflose Saunagestalt, an die sich niemand mehr gerne erinnern würde...

Die Frauenrollen, die Wahrheit, die Restsympathien - es war nicht leicht, das zusammenzubekommen. Jedes dieser Themen war schwierig genug, eine kaum lösbare Aufgabe, alle drei aber brachte nur ein Genie wie er, Gossel, auf genau den Punkt, der einen der Auflösung näher brachte. Man musste etwas von Dramaturgie verstehen, man musste Shakespeare gelesen haben, er hatte ihn nicht aus Jux zum Schluss seines Auftritts vor versammelter Mannschaft zitiert.

Gossel hielt das leere Glas in der Rechten und grinste. Dann schenkte er sich ein zweites Mal ein, tunkte das Mundstück der Zigarre in den Cognac und sog mit geschlossenen Augen daran, während er mit der Linken eine Nummer in die Tastatur seines Handys tippte.

“Liebste, ich bin's... , aber ja, meine Schöne, ich bin's. Ich habe die Bombe gezündet, ja Sie haben es gefressen, natürlich, und jetzt verderben sie sich daran den Magen, bis morgen früh. Sie werden Blähungen davon bekommen, die Kleingeister, die Sache ist für sie ein paar Nummern zu groß Ich denke an dich, die ganze Zeit habe ich an dich gedacht, es ist deine, oder darf ich sagen: es ist unsere Geschichte, die Geschichte unserer Liebe Nein, niemand ahnt etwas, wie sollten sie darauf kommen? Du und ich, darauf kommt niemand, darauf kommt nur ein Genie. Du selbst bist ja nicht darauf gekommen, habe ich recht, du würdest heute noch bei diesem BASF-Vorstandstypen in Ludwigshafen sitzen und dir die Augen ausweinen. BASF... - wie konntest du nur? In den Mief zurückzukehren und gerade da eine Zuflucht zu suchen, wo alles begonnen hat: die Geschichte eines bildschönen Flüchtlingskindes aus Sachsen, das nach dem Tod seines Vaters bei der BASF das zum Leben notwendige Scherflein verdient, während es darauf wartet, endlich geheiratet zu werden. Zwölf Jahre hat er dich warten lassen, ich sage zwölf Ja, da steigen wir ein, da beginnt die Geschichte, und du wirst sie erzählen, du bist die Erzählerin unserer Geschichte ... Alles, ja, es kommt alles auf den Tisch. Wie schlecht er dich behandelt hat, nach eurer Heirat, wie er nur ein- oder zweimal wöchentlich zu Hause auftauchte, spät in der Nacht, und die Namen eurer Söhne verwechselte und Walter immerzu Peter nannte und Peter nur Walter. Und wie er den Hund im Vorgarten abrichtete und ihn dir wegnahm, den Hund, in dessen Fell du dich ausgeweint hast in all den einsamen Nächten, in denen er sich mit seinen Saufkumpanen herumtrieb, anstatt sich um die Familie zu kümmern... Wir werden ihn als das Ekel zeigen, das er mit den Jahren für dich wurde, ein Tyrann, der zu weich gekochte Eier am Frühstückstisch stumm zurückgehen ließ und oben unter dem Dach eures Bonner Hauses Juliane Weber einquartierte, die ihm verfallen war und die immer in seiner Nähe sein musste Ja, genau, all diese Demütigungen, von denen die Journalistenbande nur raunte, das ist es, du an der Seite des für die anderen überlebensgroß werdenden Mannsbilds, dessen Idealbild im Tränenstrom deiner wasserblauen Augen zerrinnt... Hab ich das schön gesagt? Danke, ich danke dir... Diese Fallhöhe, dieses dramaturgische Idealmaß... Was? Nein, entschuldige, ist nicht wichtig, nur mein dummes Fachgeschwätz, ich kann es einfach nicht lassen... Du weißt alles, niemand weiß so viel wie du, du weißt die Wahrheit, ich habe es den Jungs heute nur angedeutet: die Wahrheit! In der letzten Folge werden wir mit den Namen der Spender auftrumpfen, in der letzten Folge, bis dahin kennen nur wir zwei das Geheimnis... Ja, das Geheimnis ... Nein, nicht heute Abend, gerade heute sollten wir vorsichtig sein ... Ja, ich liebe dich, meine Schönste, du hast nichts verloren von deinem sächsischen Schmelz, nein, aber nein, ich habe doch selbst nicht geahnt, dass auch ich mich einmal mit Sachsen wiedervereinigen würde, ausgerechnet ich... War nur ein Scherz, entschuldige, ja, blöd, ein blöder Scherz... Wie besprochen, ja, wir treffen uns wie besprochen. Sprich es nicht aus, nein, ich bitte dich, die Abhörteufel sind überall... Ja, ich dich auch, Hannelore, ja ..., ich werde dich Lore nennen und weiter... wie war noch dein Mädchenname... Renner, ach ja, mein Renner, ja, das bist du, das wirst du sein ...“

Zufrieden wiegte er sich in seinem schweren Stuhl hin und her. Erst vor einigen Wochen hatte sie es endlich gewagt, aus dem völlig verwohnten Oggersheimer Bungalow auszuziehen. Sie hatte sich zu einem Ludwigshafener Freund geflüchtet, diesem Vorstandsgreis von der BASF. In dessen Haus war er, Gossel, ihr begegnet, bei einem Abendessen. Sie hatten sich sofort verstanden, sofort, und er hatte das Feuer zu schüren gewusst. Inzwischen hatten sie sich immer wieder heimlich getroffen, drüben in Frankreich, wo ihn niemand kannte und wo sie in den Straßburger Hotels mit einer schwarzen Perücke und einer dunklen Brille auftauchte. Sie sprach gut Französisch, das kam ihnen zugute, und wenn sie gut drauf war, nannte sie ihn “mon ami“. Er war beinahe zehn Jahre jünger als sie, aber das fiel nicht auf. Sie hatte sich trotz all der Scheiße, die sie erlebt hatte, gut gehalten, sie war noch für manche Überraschung gut.

Was hat Gossel mit Hannelore vor? Und wie reagiert Kohl? Fortsetzung folgt. Auf den Kulturseiten der taz.