Gefühlte Gerechtigkeit

Jürgen Rüttgers trifft mit seiner Rhetorik den Zeitgeist: Die wachsende Ungleichheit wird als sozial ungerecht empfunden

Rüttgers kämpft für soziale Gerechtigkeit – plump und aus Machtkalkül. Aber er kämpft wenigstensZeichnet sich hier schon die neue Schlachtordnung für die Bundestagswahl im Jahr 2009 ab?

AUS BERLIN JENS KÖNIG

Gibt es eine bessere Gelegenheit, über das Thema der Stunde zu reden, als einen Gewerkschaftskongress in Berlin? Erst spricht die Kanzlerin, gleich anschließend der SPD-Chef, vor ihnen hunderte von erwartungsfrohen Gewerkschaftern im Hotel Maritim am Potsdamer Platz, dort, wo der Bundeskongress der Polizeigewerkschaft tagt, wie gemacht für ein Rededuell, für einen Schlagabtausch über die brennende soziale Frage, ob ältere Arbeitnehmer, wenn sie arbeitslos werden, länger das Arbeitslosengeld I erhalten sollen als jüngere – wer würde da nicht Beifall klatschen?

Und hatte Kurt Beck die Kanzlerin nicht erst am Wochenende per Interview dazu aufgefordert, endlich zu zeigen, wo der Hammer hängt in der CDU, deutlich zu machen, „wer Koch ist und wer Kellner“? Und hatte die Kanzlerin daraufhin nicht weiter geschwiegen, wie die zurückliegenden drei Wochen schon, in denen der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers als neuer Robin Hood durch die Lande zieht und den älteren Arbeitslosen verspricht, endlich für soziale Gerechtigkeit zu sorgen und ihnen ihr Arbeitslosengeld zu verdoppeln? Leider ist die Wirklichkeit bei der Polizeigewerkschaft an diesem Montag genauso wie das Berliner Wetter: grau, trist, verregnet.

Merkel tritt ans Mikrofon, spricht über Terrorgefahr und Rechtsextremismus, über dies und das – aber über ältere Arbeitslose? Verliert sie kein Wort. Dann folgt Kurt Beck. Zur Streitfrage dieser Tage? Ebenfalls kein Wort. Keiner von beiden scheint überhaupt zu wissen, wie man den Namen Rüttgers buchstabiert, geschweige denn, wie man ihn ausspricht. Ist das schon der Versuch, die Debatte über den Rüttgers-Vorstoß nach der am Wochenende anschwellenden Kritik aus dem Führungskreis der CDU ins Leere laufen zu lassen? Hofft Merkel, der Rüttgers-Plan ende sowieso als Wischiwaschi-Beschluss des CDU-Parteitags Ende November in Dresden? Oder geht sie davon aus, dass das Vorhaben sogar noch vorher begraben wird? Will Beck dazu nichts mehr sagen, weil mehr Geld für ältere Arbeitslose sowieso nicht in die Tüte kommt?

Egal wie die Geschichte mit Rüttgers Idee ausgeht, die politische Debatte darüber wird wiederkommen: zu anderer Zeit, bei einem anderen Thema, mit anderen Protagonisten. Egal was Merkel und Beck darüber denken.

Denn eines ist doch ganz offensichtlich: Rüttgers geht es in Wahrheit nicht um die Älteren, nicht um die Arbeitslosen, nicht um die Benachteiligten. Es geht ihm um die Frage, wie Parteien in Zeiten wachsender sozialer Ungleichheit die Macht erobern oder verteidigen können. Wie sie den Wählern den Eindruck vermitteln, sie würden sich um deren Ängste und Nöte kümmern. Wie sie der Öffentlichkeit beweisen, dass die Frage der sozialen Gerechtigkeit bei ihnen gut aufgehoben ist.

Genau das will Rüttgers erreichen: das Soziale für die Christdemokraten zu reklamieren. Als Ministerpräsident eines sozialdemokratisch geprägten Bundeslandes ist diese Frage für ihn geradezu überlebenswichtig. Insofern hat Rüttgers mit seinem Vorstoß recht. Nicht weil seine Idee, dass ältere Arbeitslose mehr Geld aus der Arbeitslosenversicherung erhalten sollen als Jüngere, richtig wäre. Rüttgers hat recht, weil er ein Gefühl aufgreift und respektiert, das sich in weiten Teilen der Gesellschaft breitmacht: Es geht ungerecht zu in diesem Land. Die Bundesrepublik, die der Soziologe Helmut Schelsky vor vielen Jahren als „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ bezeichnet hat, teilt sich wieder verstärkt in Gewinner und Verlierer. Dass ein 53-jähriger Siemens-Ingenieur, der plötzlich arbeitslos wird, nach einem Jahr mit Arbeitslosengeld I auf Hartz IV rutscht, also auf das gleiche Niveau wie ein 23-jähriger ungelernter Hilfsarbeiter, trägt zum verbreiteten Gefühl sozialer Ungerechtigkeit bei.

An diesem Punkt holt Rüttgers die Menschen ab. „Jemand, der 50 Jahre alt ist und eine Familie hat, der kann nicht ohne die notwendige Sicherheit ins Offene gehen. Wenn er seinen Arbeitsplatz verliert, bekommt er bei unserer Lage auf der Arbeitsmarkt nicht einmal mehr einen neuen Job angeboten“, sagt der Ministerpräsident. „Oder nehmen Sie einen Rentner. Wenn der 40 Jahre lang Beiträge gezahlt hat, dann besitzt er nicht mehr die Freiheit, sich eine andere Altersvorsorge zu suchen. Dann muss er sich auf das bestehende System verlassen können. Freiheit und Sicherheit gehören für mich zusammen, sind die zwei Seiten einer Medaille.“ Die Sprache verstehen viele Menschen.

Laut Umfragen unterstützen 82 Prozent der Bevölkerung Rüttgers Idee. Nun ist es so, dass eine Politik, die vorgibt, Geld zu verteilen, immer gut ankommt. Und es darf auch bezweifelt werden, dass sich die Bürger intensiv mit der Frage beschäftigt haben, wie Rüttgers seinen Vorschlag finanzieren will, nämlich „aufkommensneutral“, das heißt mit Kürzungen an anderer Stelle innerhalb der Arbeitslosenversicherung: bei Jüngeren, bei Menschen mit gebrochenen Erwerbsbiografien, bei Frauen, die nicht lange gearbeitet haben. Darauf hinzuweisen ist nicht nur notwendig, sondern auch richtig – aber diese Kritik geht am Charme der Rüttgers-Idee vorbei. Hier verteidigt einer ganz plump die Idee der sozialen Gerechtigkeit, möglicherweise mit den falschen Argumenten, vielleicht auch am falschen Beispiel, mit Sicherheit auch aus machtpolitischem Kalkül– aber er verteidigt sie wenigstens. Nicht die 82 Prozent Unterstützung sind für Rüttgers entscheidend, wichtig ist eine andere Zahl: 66 Prozent der Deutschen halten die gesellschaftlichen Verhältnisse in diesem Land für ungerecht.

Zeichnet sich hier schon die Schlachtordnung für die nächste Bundestagswahl ab? Rüttgers ist sich da sicher, Merkel scheint es noch nicht so genau zu wissen. Georg Paul Hefty, Rechtsaußen-Kommentator der konservativen FAZ, hat der Kanzlerin vor zwei Tagen eine kleine Denkhilfe gegeben: „Aus dem Bedürfnis nach Gerechtigkeit“, schrieb Hefty, „könnte sehr schnell der künftige Zeitgeist keimen.“