Unter einem schwarzen Heiligenschein

Versierte Rhetorik, verwilderte Theologie. Am Hamburger Thalia Theater inszeniert Andreas Kriegenburg Arthur Millers Stück „Hexenjagd“ als kruden Zwitter. Denn der klagende, anklagende Ton der Tragödie prägt den Abend, bis am Ende, völlig unerwartet, doch die Ironie zum Vorschein kommt

VON SIMONE KAEMPF

Im zweiten Akt hat der Reisekoffer seinen großen Auftritt. Denn da steigert sich die Hysterie so sehr, dass man davonlaufen möchte, und die in ihrem Glauben betrogene Sklavin Tituba flüchtet sich zynisch witzelnd in ihren Koffer, um sich selbst nach Barbados zurückzuschicken, wo nicht gleich die Galgenstricke baumeln, nur weil ein paar pubertierende Mädchen nachts im Wald getanzt haben. Doch dies ist nicht Barbados, und ein puritanischer Gesetzeshüter will jetzt ihre Körpermaße aufnehmen, um eine andere Kiste, ihren Sarg, zu zimmern. Aber das Clownskind, das diese Tituba, gespielt von Natali Seelig, auch ist, feilscht frech um die Körpermaße, auf dass die verbissene Wahrheitssuche über Schuld, Glaube, Sünde, die man zuvor zwei Stunden lang erlebt hat, wie ein entlarvtes Schreckgespenst wirkt: Siehe da, mit Ironie geht es doch auch.

Diese Ironie ist allerdings eine ziemlich rabiate Notbremse des Regisseurs Andreas Kriegenburg. Man hatte schon gedacht, dass er in seiner Inszenierung von Arthur Millers „Hexenjagd“ am Thalia Theater den klagenden und anklagenden Tragödienton bis zum bitteren Ende durchhalten wollte. Fiebrig, in ständiger Erwartung von Unheil, zornig über das Außerkraftsetzen der Vernunft und mit viel chorischem Sprechen, anfangs fast wie in einem antiken Drama, als könne Zwiesprache mit den Göttern geführt werden, aber am Ende auch ziemlich ratlos verpuffend. Als sei das viel zu harte Arbeit gewesen.

In der realen Vorlage des Stücks, der Hexenverfolgung in der Kleinstadt Salem im Jahr 1692, waren sich viele Bewohner – historisch bezeugt – tatsächlich sicher, dass bis dahin unbescholtene Bürger von den dämonischen Kräften des Teufels befallen waren. Genauso, wie man in Amerika Anfang der 1950er-Jahre zutiefst an die Gefahr glaubte, die von kommunistischen Kräften ausgehen sollte – oder sich in jüngster Vergangenheit von irakischen Massenvernichtungswaffen bedroht fühlte. Miller brauchte Bushs Einmarsch in den Irak nicht. Unter dem Eindruck der Kommunistenverfolgung in der McCarthy-Zeit schrieb er bereits 1952 das Stück über die Hexenprozesse in Salem – und darüber, wie sich Menschen ihrer religiösen Überzeugungen bedienen, um eigene Interessen durchzusetzen. So klagt die junge Abigail die Frau des Farmers Proctor der Hexerei an, weil sie ihren Platz einnehmen will. Der Pfarrer Parris hofft, in der Gemeinde endlich Beliebtheit zu erlangen, und ein anderer Farmer beteiligt sich, wie könnte es anders sein, weil er billig das Land eines Angeklagten kaufen möchte.

Auf das Modellhafte von Millers Stück steigt Kriegenburg voll ein. Er inszeniert streckenweise auf einer völlig leeren, grellweißen Bühne, die den Figuren viel Platz lässt, um sich immer wieder neu aufzustellen, Gruppen zu bilden und jene wieder einzukreisen, die ausscheren wollen. Die perfiden Exzesse der Logik, mit denen der alle Moral und allen Sinn hinter sich lassende Richter seine Angeklagten zu absurden Geständnissen treibt, ist hier vor allem bebildert als Konflikt zwischen Masse und Individuum, zwischen Gut und Böse, symbolträchtig zwischen den Farben Schwarz und Weiß, die Bühne und Kostüme bestimmen.

Insgeheim das Unheil schon ahnend, erzählen die fünf Mädchen anfangs gemeinsam im ängstlichen Ton von den nächtlichen Ereignissen. Ihre Kleider sind schwarz, ihre langen Haare ebenso. Wie sie sind auch die Männer in ihren schwarzen Anzügen kaum auseinanderzuhalten. Die Masse siegt erst optisch, später auch akustisch. Nur mühsam entwickelt sich mit Alexander Simon als Proctor eine Figur aus Fleisch, Blut und Eigensinn. Freilich eine, die sich wie fast alle anderen in Schuld und Sünde verstrickt fühlt.

Der dunkle Glanz der bösen Worte Millers bräuchte den marktschreierischen Ton nicht, den der Abend viel zu früh aufnimmt. In ihm gehen auch die Szenen echten Schmerzes unter, selbst wenn eine Frau anrührend von den acht Kindern erzählt, die bereits am Tag der Geburt starben. Kriegenburg hat die ohnmächtige Erregung und den schwarzen Heiligenschein des Stücks mit viel Licht- und Lärmeffekten noch einmal auf die Spitze treiben wollen und der Inszenierung damit etwas sehr Abschüssiges verpasst.

Es ist ein kruder Zwitter geworden, Ergebnis eines Geistesexzesses wie der entfesselten Sinne zugleich, der versierten Rhetorik wie der verwilderten Theologie. Und als würde der Regisseur selbst an der Wirksamkeit der Mischung zweifeln, gleitet der Abend völlig unerwartet in den Witz ab. Als könnten sich die Schauspieler jetzt erst Luft machen aus einem starren puritanischen Korsett. Der Ernst bleibt eine Sehnsucht, die Komik wirkt wie ein Hilferuf an das Stück, das am Ende leider nur Kunstbehauptung bleibt.