Trümmer und Trauma

THEATER DRESDEN Mit Stoffen von Lessing und Kleist erzählen die Regisseure Simon Solberg und Armin Petras unterschiedliche Geschichten über den alles verändernden Schrecken

Jeder trägt ein Attribut der Versehrtheit: Pflaster, Knieschützer, Halskrause

VON ANNE PETER

Das Erlebnis des Schocks öffnet manchmal eine Tür. Gegenwart dringt dadurch an einen Ort, der bisher in der Literaturgeschichte verankert war. Das geschieht in den beiden jüngsten Premieren am Schauspiel Dresden: In Lessings „Minna von Barnhelm“, von Simon Solberg inszeniert, bildet der Siebenjährige Krieg, aus dem Major Tellheim zurückkehrt, die Folie der Auseinandersetzung mit dem Schrecken der heutige Kriege. In Kleists Novelle „Das Erdbeben von Chili“, die Armin Petras auf die Bühne bringt, wird an einem Tag eine ganze Stadt in Schutt gelegt. In beiden Texten rahmt eine Liebesgeschichte die Katastrophe. Formal aber arbeiten beide Regisseure mit ganz unterschiedlichen Mitteln.

In Simon Solbergs so überzeugend aktualisierter wie unterhaltsamer Version der „Minna von Barnhelm“ flimmert immer wieder jenes Video über die Bühne, das im April 2010 unter dem Titel „Collateral Murder“ auf Wikileaks veröffentlicht wurde. Man sah, wie US-Soldaten in Bagdad Zivilisten töteten. Jedes Mal bekommt Major Tellheim dann seinen Ausraster und hält sich panisch die Ohren zu. Das Einzige, was dagegen hilft, ist Nick Cave: Kamerad Just setzt Tellheim ans Keyboard, und der singt zu düsteren Akkorden Caves „Sorrowful Wife“.

Die „traurige Frau“ heißt in diesem Fall Minna (Picco von Groote). Sie hat ihren aus dem Krieg zurückgekehrten Tellheim endlich wiedergefunden und kann nun partout nicht verstehen, warum zwischen ihnen nicht einfach alles so sein kann wie früher. Tellheims Briefe über Selbstmordattentate hat Minna zwar gelesen, glaubt aber, die „posttraumatische Belastungsstörung“ mit Gesprächstherapie bearbeiten zu können. Ihr Tellheim allerdings reißt bockig den Rollstuhl rum, jagt sich Drogen in den Arm und stellt Pappkreuze mit den Namen toter Kameraden auf. Zwischen ihnen stehen Erfahrungen, die nicht wegzureden oder sonst irgendwie vergessen zu machen sind.

Der Selbstekel des Soldaten

Dass Tellheim sich selbst gegenüber Fremdheit, ja Ekel verspürt und sich der Welt lieber ersparen würde, das spielt Sebastian Wendelin mit jeder Faser und überaus eindrücklich. Zwischen all dem Jux, den sich der 1979 geborene Solberg mit dem Lustspiel auch erlaubt, zeichnet er so das berührende Porträt eines traumatisierten Kriegsheimkehrers, das durchaus auch Soldatenwirklichkeit von heute trifft.

Damit hat Solberg eine bestechend triftige Lesart gefunden, in der Lessing zwar sehr frei interpretiert wird, die sich dafür aber nicht mit dem Problem herumschlagen muss, dem Publikum die angekratzte „Ehre“ als Hauptproblem des Majors zu verkaufen. Solberg kürzt kräftig und eliminiert, was aus dem 18. Jahrhundert schwer herüberzutransportieren ist.

Stattdessen lädt er den Stoff auf Simeon Meiers Containerbühne (Armybox links, Hotelzimmer rechts) durch Zitate von Julian Assange oder aus Robert De Niros „Taxi Driver“ mit Heutigkeit auf. Während Solberg sich seinen Klassiker also denkbar konkret zurechtzimmert, nähert sich Armin Petras dem alles verändernden Schrecken mit Kleists „Erdbeben in Chili“ in einer offeneren, tastenden Inszenierung, die dem Text weiterhin nachzulauschen scheint. Die joggingbehosten Schauspieler kommen zwischen Styroporplatten zu einer Art Kleist-Training zusammen. Man probiert also noch, signalisiert das, keiner wird sich schonen. Jeder trägt ein Attribut der Versehrtheit: Pflaster, Knieschützer, Halskrause. Das Erdbeben ist an niemandem spurlos vorübergegangen.

Die traumatisierten Körper durchleben das Geschehene noch einmal. Es steckt ihnen in den Knochen, sie zittern, zucken, verkrampfen sich. Die Rollen sind nicht fest verteilt, Stück für Stück setzt das Kollektiv Kleists Erzählung über das alle Verhältnisse umstürzende Erdbeben zusammen, durch das zwei sich verbotenerweise Liebende für eine kurze Zeit zueinanderfinden, bevor sie einem Lynchmord zum Opfer fallen.

Die Tänzerin Berit Jetzsch hat den Schauspielern ein von Contact Improvisation durchwirktes Tanztheater auf den Leib choreografiert. Ansonsten wechseln die szenischen Mittel aber von Situation zu Situation. Für die Umarmungen im Klostergarten finden sich die Schauspieler zu vielgliedrigen Paarungen zusammen, wälzen sich übereinander. Wenn die Gebäude der Stadt einstürzen, jagen sie über die Styroporplatten; sie knirschen und zerbersten unter ihren Schritten. Mal stellt Anne Müller die Flucht durch das zerstörte St. Jago als Figurentheater mit Apfelsinenstückchen dar; mal nimmt man den Text zum Anlass für eine Improvisation über persönliche Glücksauffassungen.

Zerklüftet wie die Felsen

Durch die verschiedenen Versuchsweisen wirkt der Abend so heterogen und zerklüftet wie die weißen Felsklippen des Bühnenbildes (Natascha von Steiger), das an Caspar David Friedrichs „Eismeer“ gemahnt. Nicht immer leuchtet ein, warum was wie umgesetzt wird. Und die seltsame Sterilität, die der weiße Laborraum verbreitet, steht im Kontrast zu den schwitzenden, sich beeindruckend verausgabenden Schauspielerkörpern.

Während Solberg Lessings Stück popularisiert, indem er es ganz nah an unsere Wirklichkeit heranzerrt, gibt Petras keine stringente Deutung vor. Er übersetzt Kleist in Körperbilder, die den Schrecken über den Umweg der tänzerischen Abstraktion greifbar zu machen suchen. Wo Solberg dem Trauma ein Gesicht, einen Namen, eine Psychologie gibt, verpflanzt Petras es ins anonyme Chorkollektiv. Beiden gelingt es, dem vermeintlich Undarstellbaren Ausdruck zu verleihen.