Angebot und Nachfrage

Steinmeier kennt kein Angebot? Er erklärt nicht, warum in Regierungsdokumenten von einem US-Angebot zur Freilassung von Kurnaz die Rede ist

AUS BERLIN JENS KÖNIG

Der Kontrast in Brüssel konnte größer nicht sein, und genau darin liegt schon eine erste Erklärung für die politische Topnachricht des gestrigen Tages. Der CIA-Sonderausschuss des Europäischen Parlaments legte am Dienstagmittag in der belgischen Hauptstadt seinen Abschlussbericht vor und warf darin der früheren Bundesregierung vor, ein Angebot der US-Amerikaner zur Freilassung von Murat Kurnaz aus Guantánamo abgelehnt zu haben – drei Stunden später sagte der Politiker, der sich von diesen Vorwurf am meisten getroffen fühlen musste, der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier, dass er ein solches Angebot nicht kenne.

Steinmeier musste sein bislang geheim gehaltenes Wissen ausgerechnet in Brüssel preisgeben, wohin er eigentlich gereist war, um im Europaparlament das Programm der deutschen EU-Ratspräsidentschaft zu erläutern. Diese Änderung der Tagesordnung allein verrät schon, wie sehr der Außenminister in den vergangenen Tagen im Fall Murat Kurnaz unter Druck geraten war. Kein einziges Wort hatte sich Steinmeier bislang zu dem Vorwurf entlocken lassen, als ehemaliger Kanzleramtsminister der rot-grünen Regierung entscheidend daran mitgewirkt zu haben, dass der Bremer Murat Kurnaz über vier Jahre lang in Guantánamo in Haft blieb. Noch am Montag hatte Steinmeier seinen Sprecher mitteilen lassen, er werde zum Fall Kurnaz nicht in der Öffentlichkeit, sondern nur im BND-Untersuchungsausschuss Rede und Antwort stehen. Das gebiete zum einen der Respekt vor dem parlamentarischen Untersuchungsgremium, zum anderen erfordere das die Geheimhaltungsstufe dieses brisanten Vorgangs. Es war absehbar, dass der Außenminister diesen Schweigekurs nicht lange würde durchhalten können. Der Bericht des CIA-Sonderausschusses mit seinem harten Kurnaz-Vorwurf an die Adresse der früheren rot-grünen Regierung zwang Steinmeier jetzt zu einem kurzen, aber eindeutigen öffentlichen Bekenntnis.

Der Minister äußerte zum ersten Mal Mitgefühl: „Die lange Leidensgeschichte von Herrn Kurnaz ist erschütternd, das lässt auch mich nicht kalt.“ Er erklärte die komplizierte politische Lage: „Es ging doch mit Priorität darum, Deutschland vor terroristischen Angriffen zu schützen.“ Und er wehrte sich: „Die Vorwürfe an die Bundesregierung sind erstens falsch und zudem schlicht infam.“ Aber vor allem bestritt Steinmeier, dass es im Jahre 2002 ein Angebot der USA an Deutschland gegeben habe, Kurnaz freizulassen: „Ich kenne ein solches Angebot nicht.“

Seine Hintersassen bemühten sich in Brüssel umgehend, diesen Satz so zu interpretieren, dass er von den Journalisten in Steinmeiers Sinne gelesen wird. Die Aussage des Ministers beziehe sich darauf, erklärten seine Mitarbeiter, dass es kein „offizielles Angebot“ seitens der US-Regierung gegeben habe. CIA-Mitarbeiter hätten lediglich Planspiele betrieben. Daran darf man getrost zweifeln.

Kein Geringerer als Ernst Uhrlau, damaliger Geheimdienstkoordinator im Kanzleramt und heutiger BND-Chef, räumte in einem Zeit-Interview im Juni 2006 ein „Angebot“ der US-Seite ein. Frage der Journalisten: „Die Amerikaner boten bereits im Herbst 2002 an, ihn [Kurnaz, d. R.] zurückzugeben. Das Kanzleramt und Sie haben nein gesagt.“ Antwort Uhrlau: „Das Angebot war aus verschiedenen Gründen nicht realistisch.“ Frage: „Könnten Sie etwas genauer werden?“ Uhrlau: „Nein, nur so viel: Wir haben nicht leichtfertig entschieden.“ Schlaflose Nächte nur wegen eines Planspiels?

Etliche Geheimunterlagen der damaligen rot-grünen Regierung geben zweifelsfrei Auskunft darüber, dass am 29. Oktober 2002 die so genannte Präsidentenrunde im Kanzleramt tagte. Die Chefs der deutschen Sicherheitsbehörden und die wichtigsten Staatssekretäre der Regierung diskutierten ein US-Angebot, Kurnaz nach Deutschland oder in die Türkei abschieben zu wollen. Der damalige BND-Präsident und heutige Innenstaatssekretär August Hanning habe dafür plädiert, Kurnaz in die Türkei zu überstellen und eine Einreisesperre für Deutschland über ihn zu verhängen. Kanzleramt und Innenministerium hätten diese Auffassung geteilt.

Über diese Entscheidung soll sogar die CIA verblüfft gewesen sein. Die Süddeutsche Zeitung präsentierte eine entsprechende Notiz eines deutschen Geheimdienstlers vom 4. November 2002: Ein CIA-Mann habe ihm gegenüber die Vermutung geäußert, die Bundesregierung wolle mit ihrer Entscheidung „ihre Bereitschaft demonstrieren, gegen internationale Terroristen mit aller Härte vorzugehen. Im Fall Kurnaz aber hätte eine andere Entscheidung im Interesse der USA gelegen.“

Sogar der offizielle Bericht der großen Koalition vom 23. Februar 2006, der sich mit „Vorgängen im Zusammenhang mit dem Irakkrieg und der Bekämpfung des internationalen Terrorismus“ beschäftigt, bestätigt ein wie auch immer geartetes Angebot der US-Seite zur Freilassung von Kurnaz. Der Bericht existiert in einer öffentlich zugänglichen und in einer vertraulichen Version (VS – Nur für den Dienstgebrauch). In der Geheimversion, die der taz vorliegt, heißt es in einer Chronologie zum Fall Kurnaz auf Seite 99 unter dem Datum 29. 10. 2002: „Besprechung BKAmt: BND plädiert hinsichtlich Nachfrage der USA, ob M. K. nach DEU oder in die TUR abgeschoben werden solle, für Abschiebung in die TUR und Einreisesperre für DEU. AL6/BKAmt [dahinter verbirgt sich Uhrlau, d. R.] und StS BMI teilen die Auffassung.“

Einen Eintrag später heißt es unter dem Datum 9. 11. 2002: „Internes Schreiben BND: Entscheidung der Bundesregierung, wonach M. K. nicht nach DEU abgeschoben werden solle, stoße bei US-Seite auf Unverständnis. Freilassung sei wegen seiner nicht feststellbaren Schuld sowie als Zeichen der guten Zusammenarbeit mit den DEU Behörden geplant gewesen.“