Geschredderte Grooves

Neues von der schwierigen Arbeit an einem Lyrikhype: Neun Dichter lasen in Berlin aus ihren Debüts

Pünktlich um 20 Uhr verlieren sich gerade einmal zehn Gäste in der Weite des Raumes der Berliner Literaturwerkstatt. Im vorigen Jahr war er zum selben Zeitpunkt bereits so rappelvoll, dass zusätzliche Stühle herbeigekarrt werden mussten. Zum Glück füllt es sich innerhalb der nächsten halben Stunde noch, sodass die Veranstaltung mit dem schönen Titel „Schaffen Sie alle Metaebenen ab! Lyrikdebüts 2006“ endlich beginnen kann.

Insgesamt neun Lyriker, sieben Männer und zwei Frauen, lesen an zwei Abenden. Man trägt dichtertypisch gerne Schwarz, die Männer zudem meist kurzes Haar und Brille. Der FAZ-Redakteur Richard Kämmerlings, der die Veranstaltung unprätentiös moderiert, sagt in seiner Eröffnungsrede: „Die moderne Lyrik ist mir ein Rätsel“ – weniger in ihrem Inhalt als vielmehr aufgrund des Mangels an Aufmerksamkeit, die ihr zuteil werde.

Das Spektrum der vorgetragenen Gedichte reicht von flüchtigen Wahrnehmungsskizzen über Beschreibungen modernen Großstadtlebens bis hin zu Schilderungen von Kindheiten in Ost und West. Sogar das lange stiefmütterlich behandelte Genre der Naturlyrik scheint eine Renaissance zu erleben – davon zeugen Texte von Nico Bleutge, Armin Strohmeyr und Sabine Schiffner, die ihre Gedichte mit gedämpfter Stimme liest. Sie tragen Titel wie „Die Amsel“ oder „Hibiskus“.

Schiffners Vortrag schwankt zwischen blumiger Poesiealbumschwülstigkeit („Tauche die Feder tief in das Glas mit der Zaubertinte“) und hohem Anspruch, wie etwa in der Trakl-Variation „Aus der Tiefe“. Überhaupt scheint bei vielen Autoren der Intertext durch, eine jener Metaebenen also, die doch laut Veranstaltungstitel abgeschafft gehören. Die Leipzigerin Kerstin Preiwuß zitiert aus der „Odyssee“, andere greifen auf Benn, O’Neill oder Wilhelm Busch zurück.

Originell sind die Gedichte des promovierten Elektrotechnikers Lars-Arvid Brischke, der seine lakonisch vorgetragenen Alltagsskizzen mit naturwissenschaftlichem Vokabular angereichert hat. Seine Texte heißen „Elternhaus elektrotechnisch“ oder sind nach Straßen benannt, etwa „augustenstraße, analog“: „im mischpult gerinnt / ein konglomerat aus geschredderten grooves & magengeschwüren“.

Dass beim vorwiegend jungen Publikum kaum Stimmung aufkommt, hängt damit zusammen, dass es unter den Vortragenden wenige Performer gibt. Viele Autoren neigen dagegen zu übertriebener Intonation oder beschwören abgedroschene Dichterposen: eindringlicher Blick, lange Pausen, lautes Atmen. Als Swen Friedel ein Gedicht mit „Na, da nehmen wir noch den Alkoholiker“ ankündigt, wird im Auditorium schon fast überschwänglich gelacht – man ist dankbar für alles, was auch nur entfernt an Entertainment erinnert.

Sprachlich ist vieles solide gearbeitet. Irgendwann beschleicht einen aber doch der Verdacht, dass dicht hinter den schönen Klanggebilden – den „autogenen Trüffelschweinen“ oder dem „Quäntchen Schwarzgall“ – die Banalität lauert. Es wirkt, als wollten sich die Dichter in einem Gebäude aus Idiosynkrasien einschließen und ja nichts von sich preisgeben.

Dem Leipziger Lars Reyer gelingt jedoch genau die richtige Melange aus rhythmisierter Sprache und freiem Assoziieren. Seine Texte sind detailreiche Momentaufnahmen des urbanen Lebens. In „Du triffst Menschen“ heißt es: „Oder die Männer vom Räumkommando, mit robusten / Gesten schleppen sie Gerümpel / aus einem Keller, sie verstehen sich / mit verhärteten Mienen, atemlos, mit / einem Raucherhusten“.

Während der anschließenden Diskussionsrunde kommt es noch zu einem kleinen Eklat, als jemand aus dem Publikum entrüstet „die totale Abwesenheit von sprachlicher Kühnheit“ beklagt. „Debüts sind eben keine Anfängerlyrik“, brüllt er, woraufhin die Autoren konsterniert dreinschauen. Kurz darauf geht dann ein Lyrikmarathon zu Ende, den wir mit Ernst Jandl beschließen wollen: „So viele Buchstaben / die nicht aus ihren Wörtern können“. ANDREAS RESCH