Die Stunde der Ja-Sager

Der Bundestag wird morgen die Gesundheitsreform beschließen. Fachleute von SPD und Union distanzieren sich und halten das Ergebnis für misslungen. Die Opposition fühlt sich verschaukelt, weil die Änderungen erst in letzter Minute enthüllt werden

AUS BERLIN ANNA LEHMANN

Je besser sie sich mit der Gesundheitsreform auskennen, desto mehr widerstrebt es Abgeordneten, ihr im Bundestag zuzustimmen. Morgen soll die Reform im Bundestag verabschiedet werden, damit sie zum 1. April in Kraft treten kann. So haben es die führenden Politiker der großen Koalition verabredet, doch viele Parlamentarier verweigern die Gefolgschaft – allen voran die Fachleute im Gesundheitsausschuss. Sie haben Bauchschmerzen, obwohl sie die über 200 eng bedruckten Seiten in langer Nachtarbeit mit ausgearbeitet haben.

Bei der gestrigen Abstimmung im Ausschuss meldeten sich sechs von elf SPD-Vertretern abwesend. So ließ sich der SPD-Fachmann Karl Lauterbach von seinem Parteifreund Dirk Becker vertreten, einem Experten für Naturschutz und Reaktorsicherheit. „Dass sich so viele Leute vertreten lassen, habe ich überhaupt noch nicht erlebt“, sagt Klaus Kirschner, der für die Sozialdemokraten 29 Jahre im Bundestag saß und unter Rot-Grün den Gesundheitsausschuss leitete. Der Arzt und SPD-Abgeordnete Wolfgang Wodarg bezeichnet es der taz gegenüber als „Alarmsignal“, dass die Mehrheit der Fachpolitiker sich nicht dazu durchringen kann, die Reform mitzutragen.

Seit einem Jahr tüfteln Politiker von CDU, CSU und SPD mit Bundesministerin Ulla Schmidt (SPD) die Details der Gesundheitsreform aus. Weil sich die Regierungspartner aber über die Finanzierung des Gesundheitswesens nicht einigen konnten, wurde die große Reform inzwischen zum Kompromiss herabgestuft – keiner ist zufrieden, aber es gibt ein Ergebnis.

Auch in der Union halten viele die Reform für misslungen. Ausschussmitglied Rolf Koschorrek (CDU) würde ihr die Note drei geben. „Es sind viele Dinge angefasst worden, die noch nicht zu Ende gebracht wurden“, sagte er der taz. Den niedergelassenen Zahnarzt betrübt, dass das Prinzip Kostenerstattung – Behandlung gegen Rechnung – nur angetippt, aber nicht vollständig eingeführt wurde. Doch hat Koschorrek wie die anderen elf Unionsmitglieder im Ausschuss letztendlich mit Ja gestimmt.

Auch die Mehrheit der Bundestagsabgeordneten wird morgen für die Gesundheitsreform votieren. Das zeigten Probeabstimmungen, die SPD und Union schon am Dienstag in den Fraktionen durchführen ließen. Um den Mitgliedern das Händeheben zu erleichtern, haben diese in der vergangenen Woche Argumentationshilfen erhalten. Während die Unionsvertreter 15 gute Gründe fanden, „Warum die Reform besser als ihr Ruf ist“, hatte das Büro der SPD-Vizefraktionschefin Elke Ferner nur 6 zusammengetragen. Dementsprechend schlechter ist die Stimmung in der SPD.

Viele GenossInnen können nicht nachvollziehen, dass die Reform die Handschrift der SPD trägt, wie es Ferners Schreiben behauptet. Wodarg kritisiert, dass die Krankenkassen in einen Wettbewerb um junge und gesunde Versicherte getrieben und sich um die chronisch Kranken nicht kümmern müssten. Diese Bedenken teilen Fachleute wie der Gesundheitsökonom Eckart Fiedler, der ein „sehr schlechtes Gefühl hat“. Sein Gutachten über die Folgen dieses Wettbewerbs wurde wie das seines Kollegen Bert Rürup zur Kenntnis genommen – und ins Archiv des Bundestages weitergeleitet.

Auch die Abgeordneten der Oppositionsparteien FDP, Grüne und Linkspartei fühlen sich nicht ernst genommen. Am Abend davor und während der Sitzung schickten ihnen Union und SPD noch über 80 Änderungsanträge zu, die abgestimmt werden sollten. „Ich fühle mich als Parlamentarier ausgebremst“, sagte der Grüne Harald Terpe. Der Gesundheitssprecher der Linken, Frank Spieth, sieht sich in vordemokratischer Tradition behandelt. „Das ist keine Sternstunde des Parlamentarismus.“