Die gefährliche Warteschleife

Auch mit Praktika bleibt die Hälfte der Hauptschüler ohne reguläre Ausbildung. Anders bei Akademikern: Ihnen hilft das Praktikum am Ende meist doch

Bei Hauptschülern: Junge Männer verlaufen sich öfter als junge Frauen in Warteschleifen und werden arbeitslos

Auch Despina hat ihre Erfahrung mit Praktika gemacht. Irgendwann hat sie gefragt, wie es mit der Übernahme stehe. „Aber da hat der Chef sofort angefangen zu brüllen“, berichtet die junge Frau. „Ich will diesen Vertrag jetzt noch nicht unterschreiben, sondern erst im Frühjahr“, schrie der Mann. Despina bekam die Stelle schließlich – nach 150 Absagen, die sie gesammelt hatte. Aber es war keine echte Stelle, die sie mit ihren 21 Jahren antrat, sondern eine Lehrstelle. Zukunft ungewiss.

Zuvor hatte die junge Aussiedlerin drei Jahre im so genannten Übergangssystem zugebracht. Dieses System ist im Bewusstsein der Nation noch nicht angekommen – obwohl inzwischen eine halbe Million Jugendlicher darin steckt. Das Übergangssystem, das 16- bis 25-Jährige bevölkern, liegt irgendwo zwischen Schule und Berufsausbildung. Und es hat viele Namen: Mal heißt es Berufsgrundschuljahr, mal berufsvorbereitende Maßnahme. Manchmal hat es auch den klingenden Namen „Jump“, zu deutsch: Absprung. Ob die Betroffenen einen Sprung machen, ist aber ungewiss. Nur eins ist sicher im Übergangssystem: Einen anerkannten Berufsabschluss gibt es darin nicht.

Gestern haben renommierte Forscher für die Friedrich-Ebert-Stiftung das Übergangssystem genauer beleuchtet. „Berufsbildung im Umbruch“ heißt die Studie, und die Forscher wollen damit „Signale für einen überfälligen Aufbruch“ aussenden. Denn Martin Baethge, Heike Solga und Markus Wieck haben eine folgenschwere Umwälzung beobachtet: Die duale Ausbildung ist in der Krise, „sie verliert ihre dominante Position“. Im Jahr 2004 haben 43 Prozent Ausbildungssuchende dort einen Platz gefunden. Aber im Übergangssystem waren es bereits 40 Prozent. Und 17 Prozent befinden in der schulischen Berufsbildung. Das bedeutet: Das komplizierte Geflecht aus Ersatzmaßnahmen ist bald wichtiger als die traditionelle Facharbeiterausbildung. „Wir müssen offen über die Zukunftsfähigkeit unserer Berufsbildung diskutieren“, fordert Martin Baethge vom Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen – und zwar schnell.

Denn die Folgen für die Abgänger besonders der unteren Schulformen sind gravierend. Während die Nation sich über eine schwer definierbare „Generation Praktikum“ von Akademikern den Kopf zerbricht, wächst beinahe unbemerkt eine „Generation Arbeitslos“ heran. Und die ist ziemlich groß.

Inzwischen hat die Hälfte der Hauptschüler und 80 Prozent der Sonderschüler praktisch keine Chance mehr auf eine reguläre Ausbildung. Selbst 25 Prozent der Realschüler wechseln nach der Schule in die Unsicherheit des Übergangssystems. In bestimmten Jobs wie IT-Berufen oder den kaufmännischen Laufbahnen haben längst die Gymnasiasten das Regiment übernommen. Besonders stark betroffen sind diese Gruppen: Zuwanderer, die nur noch einen Anteil von 4 Prozent an der regulären Ausbildung haben; und junge Männer, die sich öfter in Warteschleifen verlaufen und arbeitslos werden als junge Frauen.

Aber es gibt noch einen anderen Leidtragenden der Krise der Berufsbildung: die Modernität des Landes. Baethge beobachtet einen Mangel an hochqualifiziertem Personal. Der Anteil der 25- bis 34-jährigen Akademiker ist in Deutschland inzwischen so niedrig (24 Prozent), dass das Land ins untere Drittel der OECD abgerutscht ist. Nach qualifizierten Facharbeitern wird gerade in den Metallberufen oder der Elektrotechnik gesucht – genau jenen Branchen, die seit den 80er Jahren die Ausbildung scharf zurückgefahren haben.

Gibt es schnelle Gegenmaßnahmen? Da runzelt Baethge die Stirn. Er sieht alle drei Säulen des Bildungssystems wanken: die berufliche und die akademische Bildung, die beide zu wenig Lernwillige aufnehmen können. Und das Schulsystem, das Jugendliche wie Despina nicht gut vorbereitet. „Es ist so: Ich hatte drei 4er auf dem Zeugnis, ansonsten 2er und 3er“, sagt sie. „Ich habe oft gedacht, diese 4er, die hätten nicht sein müssen.“

fes.de: „Berufsbildung im Umbruch“

CHRISTIAN FÜLLER

Mehr Hochschulabsolventen als früher müssen nach ihrem Abschluss noch ein oder mehrere Praktika machen, um Zugang zur Jobwelt zu finden. Doch nur wenige landen in einer „Praktikantenschleife“. Die meisten haben in den Jahren nach dem Abschluss eine bezahlte Beschäftigung gefunden. Dies ist das Ergebnis einer Absolventenstudie im Auftrag der DGB-Jugend und der Hans-Böckler-Stiftung, die gestern vorgestellt wurde.

Die Forscher hatten den Absolventenjahrgang des Wintersemesters 2002/2003 der FU Berlin und der Universität Köln nach ihrem Einstieg ins Berufsleben gefragt. Danach hatten 37 Prozent der Jungakademiker nach dem Uniabschluss Praktika absolviert. 22 Prozent machten danach nur ein Praktikum. 11 Prozent absolvierten zwei und nur 4 Prozent drei und mehr Praktika. „Es ist ein Probearbeitsmarkt geworden“, sagte gestern Dieter Grühn vom Arbeitsbereich Absolventenforschung der Freien Universität Berlin, der die Studie durchführte. „Die Einmündungsphase in den Beruf dauert heute länger als früher.“

Für die FU Berlin kann Grühn auch einen Vergleich mit dem Abgangsjahrgang 2000 anstellen. Danach stieg der Anteil der Praktikanten an den Absolventen dort innerhalb von zwei Jahren von 25 auf 41 Prozent – „eine erhebliche Steigerung“, erklärte gestern die stellvertretende DGB-Vorsitzende Ingrid Sehrbrock. Eine soziale Brisanz bekommen die Zahlen auch dadurch, dass die Hälfte der Praktika unbezahlt ist. Zwei Drittel der befragten Absolventen finanzierten sich während der Praktikumsphase mit Hilfe der Eltern, weil der Probejob nicht oder zu gering bezahlt wird.

Wer sich allerdings den weiteren Verlauf in der Erwerbsbiografie der Akademiker anschaut, kann Entwarnung geben. Dreieinhalb Jahre nach Beendigung des Studiums war nur jeder 25. der JungakademikerInnen arbeitslos. 39 Prozent hatten eine unbefristete Anstellung gefunden. 35 Prozent ackerten in befristeten Jobs. Jeder sechste war selbständig. Nur 1 Prozent machte noch ein Praktikum. Die allermeisten finden also eine Tätigkeit – wenn auch eine unsichere. „Die atypische Beschäftigung mit befristeten Verträgen, mit Projektarbeit oder Selbständigkeit ist für viele Akademiker kein Übergangsphänomen“, sagte Grühn.

Bei Akademikern: Zwei Drittel der Praktikanten brauchen Hilfe der Eltern, weil der Probejob nicht oder zu wenig bezahlt wird

Abgänger der Kultur- und Geisteswissenschaften absolvierten häufig Praktika, besonders im Medien- und Kulturbereich werden die billigen Arbeitskräfte gern genommen. Doch auch Wirtschafts- und Naturwissenschaftler müssen sich postgraduell als Praktikant verdingen. Frauen lassen sich leichter verheizen als Männer: Sie machen, unabhängig vom Studienfach, grundsätzlich häufiger Praktika als Männer – und werden dafür auch noch schlechter bezahlt, sagte Grühn.

Die bezahlten Praktikanten bekommen im Schnitt 600 Euro im Monat an Vergütung. Im Mittel dauert die Tätigkeit sechs Monate. Fast die Hälfte der Praktikanten gab an, dass ihre Tätigkeit schon fest in den Betriebsablauf eingeplant war. Trotzdem lohnt sich manches der ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse am Ende doch: Ein Drittel der Ex-Praktikanten erklärten, über ein Praktikum an den jetzigen Job gekommen zu sein.

Repräsentativ ist die Studie aber leider nicht: Die Forscher hatten insgesamt 1.800 Absolventen aus Köln und Berlin angeschrieben. Davon erhielten sie rund 500 Fragebögen ausgefüllt zurück. Sowohl Leute in sehr guter Beschäftigung als auch arbeitslose Jungakademiker beteiligten sich häufiger nicht an solchen Umfragen und seien dadurch möglicherweise unterrepräsentiert, sagte Grühn.

DGB-Vize Sehbrock forderte gestern, Praktika als Lernverhältnis zu definieren und auf drei Monate zu begrenzen. Sie erwarte, dass sich die Bundesregierung mit dem Gewerkschaften für eine gesetzliche Regelung zum Schutz von Praktikantinnen und Praktikanten einsetze.

BARBARA DRIBBUSCH

Mehr Infos: www.dgb.de