Kinder werden immer aggressiver

Psychosoziale Störungen steigen, die Anwendung des Medikamentes Ritalin ebenso. Frankfurter Sigmund-Freud-Institut setzt auf Ursachenforschung im frühkindlichen Alter

FRANKFURT/MAIN taz ■ Immer mehr immer jüngere Kinder werden aggressiv, gewalttätig, verhaltensauffällig. Je später ihnen geholfen wird, desto schlechter ist die Chance, eine Verhaltensänderung zu erreichen. Fehlentwicklungen, sagte Projektleiterin Marianne Leuzinger-Bohleber vom Frankfurter Sigmund-Freud-Institut gestern Vormittag, seien schon im Kindergartenalter zu erkennen. Sie ließen sich umso schwerer korrigieren, je länger „die Misserfolgsgeschichte“ der Kinder andauere.

Leuzinger-Bohleber stellte gestern zusammen mit Bürgermeisterin Jutta Ebeling (Grüne) die Ergebnisse einer interdisziplinären Präventionsstudie vor. Rund 500 zu Beginn drei bis vier Jahre alte Kinder aus 14 zufällig ausgewählten Frankfurter Tagesstätten in Stadtteilen mit unterschiedlicher Problemlage wurden vier Jahre lang psychoanalytisch beobachtet und begleitet, Eltern und Erzieher in das Programm einbezogen.

Die Studie, die in Zusammenarbeit mit dem Institut für Analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie und dem Stadtschulamt erstellt wurde, kam zu dem Ergebnis, dass die Zahl der Kinder mit psychosozialen Integrationsstörungen (AHDS) bis zum Schulbeginn im Vergleich mit einer ebenso großen Kontrollgruppe signifikant gesenkt werden konnte. Leuzinger-Bohleber differenzierte allerdings, dass allgemeine Symptome wie Aggressivität und Ängstlichkeit oft mit der Zeit von alleine verschwänden, wenn die Kinder älter werden. Das gelte aber nicht für AHDS.

Die Wissenschaftlerin wandte sich ausdrücklich gegen das für die über Sechsjährigen viel zu häufig eingesetzte Medikament Ritalin, dessen Verordnung in der Bundesrepublik „erschreckend“ angestiegen sei. Die Vergabe habe sich in den letzten zehn Jahren „rasant“ auf das 270fache vervielfacht. Nebenwirkungen und Spätfolgen seien wenig erforscht. In den meisten Fällen seien die frühkindlichen Störungen aber nicht auf eine hirnorganische Schädigung zurückzuführen. Sie machte ein Bündel von Gründen aus. Dazu gehören Erfahrungen mit häuslicher Gewalt und Verwahrlosung in Risikofamilien, Hochbegabung, Kriegstraumatisierung, Trauer und Depression bei Scheidung oder Tod von Eltern, kulturelle Loyalitätskonflikte und schlichte Armut.

Leuzinger-Bohleber schloss die Verordnung von Ritalin nicht generell aus, aber auch eine genetische Disposition zu AHDS reiche für dessen Verordnung nicht: „Ich habe den Verdacht, dass es sich vielleicht auch um eine Verführung handeln könnte.“ Es könne auch ohne Medikamente motiviert werden: „Interesse erzeugt Konzentration.“ Auch Neurologen seien zu ähnlichen Schlüssen gekommen wie die Studie. Oft kollidierten im Alltag durch Herkunft bedingte Temperamentsunterschiede, die „des Spiels und der Exploration“ bedürfen, um in in kontrollierte und kreative Bahnen gelenkt werden zu können. Zur Ursachenforschung gehöre die genaue Beobachtung der einzelnen Kinder durch die Erzieher, das „emphatische Einfühlen“ in deren Situation. Die Erzieher seien jedoch oft generell überlastet und durch einzelne Problemkinder besonders überfordert. Nach anfänglichen Widerständen gegen die „von oben“ verordnete Studie seien sie durch Supervisionen und Gespräche professionalisiert worden.

Ebeling stellte außerdem in Aussicht, dass das Stadtparlament in den kommenden fünf Jahren 400 neue Kita-Stellen bewilligen werde. Leuzinger-Bohleber betonte, dass die Studie auch für die Therapeuten eine wichtige Erfahrung gewesen sei: „Wir müssen viel mehr ins Feld gehen.“ Denn: „Gerade die, die es am nötigsten hätten, kommen nicht zu uns.“ HEIDE PLATEN