Mit Taschenrechner und Goldwaage

taz-Serie „Das letzte Jahr“ (Teil 5): Es ist Zeit für die Halbjahreszeugnisse. Für die Lehrerinnen der Klasse 10/3 an der Werner-Stephan-Oberschule in Tempelhof bedeutet das: sauber kalkulieren, präzise formulieren. Denn mit diesem Zeugnis bewerben sich die SchülerInnen um einen Ausbildungsplatz

von ALKE WIERTH

Noten sind ja relativ einfach. Melanie Koch, eine der drei Lehrkräfte der Klasse 10/3 der Werner-Stephan-Oberschule, sitzt mit dem Taschenrechner am Schreibtisch und rechnet Fehltage zusammen und Notendurchschnitte aus. Vier, vier, drei, fünf, drei: Die Zeugniszensur ergibt sich aus den Leistungen des vergangenen Halbjahrs – nichts zu deuteln, nichts mehr zu ändern. Deutsch, Englisch, Mathe, Bio, Anzahl der Fehltage, „davon unentschuldigt“: Die erste Seite eines Zeugnisses liest sich kühl und sachlich und ist mit ihren unbestechlichen Zahlen geradezu erbarmungslos objektiv.

Ruth Jordan, Klassenlehrerin der 10/3 und stellvertretende Leiterin der Tempelhofer Hauptschule, grübelt über der zweiten Zeugnisseite, auf der die Lern- und Leistungsbereitschaft, das Arbeits- und Sozialverhalten der Schüler beschrieben werden. Hier geht es um Worte – und zwar um jedes Wort: „X.* ist ein intelligenter und leistungsstarker Schüler, der sich noch steigern könnte, wenn er den Unterrichtsinhalten mehr Aufmerksamkeit widmen würde.“ „Y. ist bemüht, den Anforderungen zu entsprechen.“

Ein Ausbildungsplatz ist wie ein Gewinn im Lotto

Sorgfältige Formulierungen sind gefragt, denn die Halbjahreszeugnisse sind für die SchülerInnen der letzten Hauptschulklasse besonders wichtig. Zwar haben sie alle, bis auf die Integrationsschüler, die aufgrund ihres besonderen Förderbedarfs anders beurteilt werden, den einfachen Hauptschulabschluss schon in der Tasche – den haben sie mit dem erfolgreichen Abschluss der neunten Klasse erworben. Damit einen Ausbildungsplatz zu bekommen ist jedoch fast so selten wie ein Lotteriegewinn. Deshalb geht es nun um den begehrten erweiterten Hauptschulabschluss nach der Zehnten, der bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt oder für die Aufnahme auf weiterführende Schulen verspricht. Für einige gute SchülerInnen kommt außerdem die Teilnahme an den MSA-Prüfungen in Frage: den Prüfungen für den mittleren Schulabschluss, der einem Realschulabschluss entspricht.

Ob alles klappt, entscheidet sich eigentlich erst im kommenden Halbjahr. Trotzdem sind die Zeugnisse nach der ersten Hälfte der zehnten Klasse für die SchülerInnen fast so wichtig wie die Abschlusszeugnisse. Denn das Ausbildungsjahr beginnt im September. Wer eine Ausbildungsstelle sucht, bewirbt sich jetzt – mit dem Halbjahreszeugnis.

„Es ist sehr wichtig, dass wir bei diesem Zeugnis sorgfältig sind, dass wir alle positiven Bemerkungen wirklich hineinschreiben und nichts vergessen“, sagt Ruth Jordan. Die Tür ihres Büros klappt ständig auf und zu. „Soll die Teilnahme am Vertrauensschülertraining im Zeugnis stehen?“ „Soll drinstehen, wenn jemand am Förderprogramm des Netzwerks Hauptschulen teilnimmt?“ Als stellvertretende Schulleiterin muss Ruth Jordan sich nicht nur um die Zeugnisse für ihre eigenen SchülerInnen kümmern, sondern auch die KollegInnen dabei unterstützen, beim Zeugnisschreiben keine Fehler zu machen. Rundschreiben der Senatsbildungsverwaltung bedecken ihren Schreibtisch: Versetzungsbestimmungen, Verordnungen, Ausführungsbestimmungen.

„Nein, das Netzwerk schreibt eigene Zertifikate.“ „Ja, Vertrauensschülerarbeit kann rein, die Teilnahme an anderen AGs muss.“ Jordans stresserprobte Stimme ist etwas höher als sonst – die Anspannung und der Druck sind herauszuhören. Die geltenden Bestimmungen anzuwenden, die notwendigen Formalitäten bis hin zum richtigen Papier zu berücksichtigen, dazu der Zeitdruck, dass alle Zeugnisse pünktlich Korrektur gelesen, ausgedruckt und unterschrieben sind – dabei findet sich nur schwer die nötige Ruhe, um jedes Wort für die Schülerbeurteilungen auf die Goldwaage zu legen.

Personalchefs achten auf Noten und Fehlstunden

„Z. zeigt kontinuierliches Bemühen um gute Leistungen“ – heißt das nicht in der Lesart eines Personalbüros: Er erreicht sie aber nicht? „Potenzielle Arbeitgeber schauen vor allem auf die Zensuren und die Fehltage“, meint Ruth Jordan. Die Beurteilungen auf der zweiten Seite des Zeugnisses interessierten sie weniger. „Das Wichtigste daran sind die Prognosen“, sagt Lehrerin Jordan – und vor allem deren letztes Wort. „Bei gleichbleibenden Leistungen ist das Erreichen des erweiterten Hauptschulabschlusses …“ , so lautet immer der Anfang. Ihm folgt das entscheidende Wort: „ausgeschlossen“, „gefährdet“, „wahrscheinlich“ oder, im besten Falle, „sicher“.

Es gibt in der Klasse von Ruth Jordan nur einen einzigen Schüler, der bereits einen Ausbildungsplatz in Aussicht hat. Bei seinem Schülerpraktikum in einem Handwerksbetrieb hat er einen sehr guten Eindruck hinterlassen. Es ist sein Zeugnis, in dem der Satz von dem „intelligenten und leistungsstarken Schüler“ steht, der sich allerdings „noch steigern könnte“ – wenn er sich nur mehr für den Unterricht interessierte. „Pubertät“, kommentiert Ruth Jordan das knapp – ihr Schulterzucken wirkt verständnisvoll. Die Beurteilungen auf der zweiten Seite des Zeugnisses bieten der Lehrerin die Möglichkeit, auf solche Gefahren hinzuweisen, zu warnen, Anstöße zu geben und natürlich auch zu loben. Auch wenn das nicht immer den erwünschten Effekt zeigt – immerhin erreichen die Zeugnisse auch jene Eltern, die sonst an der Schule nur wenig Präsenz zeigen.

Nicht immer ziehen die Eltern am selben Strang

Klassenlehrerin Jordan tut aber mehr, als Mahnungen in Zeugnisse zu schreiben. Mit der Mutter des Jungen, der Aussicht auf eine Lehrstelle hat, telefoniert sie regelmäßig. In seinem Fall läuft die Kooperation zwischen Schule und Elternhaus reibungslos – man zieht an einem Strang. Das ist nicht immer so. In einem anderen, kritischen Fall hat Jordan erst im Gespräch mit einer Mutter erfahren, dass das, was eine Schülerin ihr über ihren Fleiß und außerschulische Kurse erzählt hatte, gar nicht stimmte. Die Schülerin kam nach dem Gespräch tagelang nicht zur Schule.

„Manches übersteigt meine Möglichkeiten“, sagt Ruth Jordan über ihr Engagement. Und: „Es wäre unredlich, so zu tun, als seien es neutrale Entscheidungen, welchem Schüler man mehr und welchem weniger Einsatz zukommen lässt“: „Das hat natürlich etwas mit mir zu tun.“ Sie sei wohl „eher eine Jungenlehrerin“, sagt Ruth Jordan, und dass das möglicherweise mit ihrer eigenen Schulzeit an einer Klosterschule zu tun habe.

Strenge Regeln galten da, etwa bei der Kleiderordnung: „Wir durften keine Hosen tragen, keine ärmellosen Oberteile, Minis schon gar nicht, sondern Röcke bis unters Knie.“ Bis heute trägt die Lehrerin fast ausschließlich Hosen – und mit Religion hat sie auch nicht mehr viel zu tun. Nur noch ein bisschen, denn einmal in der Woche geht Ruth Jordan in die Kirche und singt. Der Chor, das ist ihre Entspannung von der Arbeit in der Schule. Kirchenlieder, Kantaten, am liebsten in Latein – da fällt ihr das Abschalten noch leichter: „Lateinisch kann ich nämlich nicht!“

Die 1955 geborene Lehrerin stammt aus Köln, aus einer streng katholischen „Unterschichtfamilie“, wie sie sagt. Drei der vier Kinder haben studiert – für die nicht gerade wohlhabende Familie war das nicht einfach zu leisten. Aber Bildung sei ihren Eltern, vor allem ihrer Mutter, sehr wichtig gewesen, sagt Jordan: „Sie hat ihren ganzen Ehrgeiz in uns gesteckt.“

Funktionierende, „heile“ Familien, die zu solcher Unterstützung in der Lage sind, finden sich unter ihren SchülerInnen immer weniger. Arbeitslosigkeit, Suchtprobleme, Trennung, aber auch die Bewältigung von Migration oder Flucht belasten die Eltern und damit die Kinder. Und: Viele der Familien, aus denen ihre SchülerInnen kommen, seien arm, sagt Ruth Jordan: „Und wir wissen ja mittlerweile, wie groß der Zusammenhang zwischen dem Einkommen der Eltern und den Bildungschancen der Kinder in Deutschland heute ist.“

Kämpft sie gegen all das nicht einen aussichtslosen Kampf? „Nein“, sagt Ruth Jordan und klopft energisch die bereits fertigen Zeugnisse zu ordentlichen Stapeln. Man müsse sich eben an den Erfolgsgeschichten aufrichten, die es ja auch gibt. „Z.“*, zitiert sie aus einem der Zeugnisse, „zeigt ausgeprägte Lern- und Leistungsbereitschaft und erzielt gute bis sehr gute Ergebnisse bei schriftlichen Arbeiten. Referate hält er frei und selbstsicher und beteiligt sich auch mündlich regelmäßig mit guten Beiträgen.“ So klingt die Erfolgsgeschichte eines einst stillen und eher gehemmt wirkenden Jungen, der sich in Ruth Jordans Klasse 10/3 zu einem selbstbewussten, ehrgeizigen Schüler entwickelt hat. Am Ende dieses Halbjahres erhält er eines der besten Zeugnisse der Klasse.

* Wem sie verraten wollen, was in ihrem Zeugnis steht, wollen wir den SchülerInnen der 10/3 lieber selbst überlassen. Deshalb haben wir ihre Namen in diesem Teil unserer Hauptschulserie unkenntlich gemacht