Monstren der Eindeutigkeit

Neue Konservative und ihre libertären Eltern? „Die Probe“ schafft sie alle. Lars-Ole Walburg hat Lukas Bärfuss’ Stück über die Folgen eines Vaterschaftstests in München inszeniert

Der Schweizer Dramatiker hatein Gespür für Skandale und Themen, die sich auch gut als Talkshowthemen machen würden

Als „Drama der Eindeutigkeit“ hat Lukas Bärfuss im Vorfeld der Uraufführung sein jüngstes Stück bezeichnet. Nun ist „Die Probe“, eine Auftragsarbeit für die Münchner Kammerspiele, von Lars-Ole Walburg auf eine Bühne gebracht worden, die sowohl Zifferblatt einer Uhr als auch die immer abschüssiger werdende Drehscheibe des Glücks sein könnte. Dort baut sich nun geradlinig und eindeutig inszeniert als Drama auf, was nach einem negativen Vaterschaftstest von der Familie übrig bleibt. Denn davon handelt das neue Stück des Dramatikers des Jahres 2005: wie die fürchterliche Gewissheit, die die genetische Probe aufs Exempel schafft, die Grundfesten der bürgerlichen Gesellschaft zerrüttet. Diese Zerrüttung beginnt im Inneren und ganz klein, aber sie zieht weite Kreise.

Der DNA-Test taugt zum Talkshowthema, nicht anders als das behinderte Mädchen, das schon in Bärfuss’ „Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ seine Sexualität entdeckt. Überhaupt scheint der 1970 geborene Schweizer Dramatiker seine Stoffe sehr konkret auf der Straße zu finden, gibt ihnen aber stets einigen Auslauf in der Fantasie: So schrammte sein Erfolgsstück „Der Bus“, das bei den Mülheimer Theatertagen den Dramatikerpreis der Jury gewann, gleich an einem ganzen Bündel potenzieller Talkshowthemen vorbei, die unter den Titel „Glaube und Fanatismus“ passen.

In München werden all diese der Wirklichkeit abgeschauten Figuren, die oft doch auch mit einem überraschenden Eigenleben ausgestattet sind, eher kalt abserviert: Agnes, die bloßgestellte Mutter Maria, die dem Gatten zuliebe sogar das eigene Fleisch und Blut verstoßen würde, dazu der gottgleiche und fußbadverrückte Politikervater des gehörnten Ehemanns, der im Untertitel des Stücks „Der brave Simon Korach“ heißt, und auch der Gehörnte selbst verlieren auf halbem Weg zwischen Thesenschleuder und Figur die Orientierung.

Nur zu Beginn bebt es noch etwas in dem von Oliver Mallison dargestellten Peter, der an der Rampe eine derart blutrünstige Rache schwört, wie sie nur Fanatiker im Zeichen der Religion oder Figuren antiker Tragödien kennen: „Ich will mit der Zunge beginnen. Und einem Teppichmesser. Damit werde ich diesen Fleischlappen aus ihrem Mund säbeln, damit die Welt verschont bleibt von ihren Lügen. Ihre Fotze schütte ich zu mit Fugenleim, eigenhändig, dann wird ihre Untreue keinen mehr kümmern. Ihren Balg, ihren Bastard, werde ich mit kochender Milch übergießen, die Augen aus den Höhlen pulen, kleinschneiden, vor ihren Augen kleinschneiden. Ich werde eine Schweinerei anrichten, wie das Landeskriminalamt sie noch nicht gesehen hat.“

Dies sind die ersten Worte des Peter Korach, der später an seiner Gutmütigkeit sterben wird – auf dem Weg zurück zu seiner Frau. Derweil gewinnt der Papa (Hans Kremer), dem die fruchtbaren Selbstfindungsversuche in seinem familiären Umfeld ziemlich egal sind, zum ersten Mal eine Wahl und biegt so schnell in die Siegerspur ein, dass er in ihr bald alleine strampelt. Die Gattin, die eben frisch aus dem Aschram kam, wird verstoßen, weil nur eine Jüngere ihm wieder zu Nachwuchs verhelfen kann („Ich will nicht aussterben“). Und seinen Assistenten Franzeck, den er einst aus der Gosse geholt hat und der auf dem Familienplakat im Hintergrund schon mal die Stelle des Sohnes einnahm, wirft Simon kalt in dieselbe zurück. Hier das wieder konservative Familienmodell der Kinder, dort das libertäre Sichausleben der 68er-Eltern: Beide Ansätze halten der Probe nicht stand. Ihr Gift wütet und zersetzt. Wissen ist Ohnmacht. Nichtwissen hilft auch nicht weiter.

Walburgs Personal spielt in wächsernen Plastikperücken stets nach vorne, wohin der etwas halbgare Text auch schon will. Dabei werden Bärfuss’ Kämpfende und ihre Ausrufesätze zu Bausteinen einer szenischen Erörterung. Mit Ausnahme von Stefan Merki, der sich als Franzeck aus dem komödiantischen Bodensatz des Stückes heraus eine heimliche (und wunderbar uneindeutige) Hauptrolle erspielt, bleiben alle Schauspieler unter ihrem Niveau. Ein nicht falsches, aber fades Regiekonzept platziert sie auf der Drehscheibe wie Spieluhrfiguren, denen eigenständige Tonartwechsel nicht erlaubt sind: Monstren der Eindeutigkeit – immerhin noch in Bewegung.

SABINE LEUCHT