300 Lieder, alle vergessen

In unserer Reihe „Agronauten“ fragen wir: Sind Sie bereit fürs Land? Kennen Sie seine Lieder?

Um Material für eine Dokumentation über den bulgarischen Volksgesang zu sammeln, reiste die Sängerin Elwira Niewiera (29) durch die Dörfer der Rhodopenberge. Als Erstes trifft sie eine alte Sängerin namens Baba Janka.

Unmittelbar nach meine Ankunft legt Baba Janka ihre Hand auf meine Brust und fängt an zu singen. Ihr kleines Häuschen beginnt von der Resonanz ihrer Stimme zu wackeln. Dabei bleibt ihr Körper so ruhig, als würde gar nicht sie selbst singen. Dann weint sie, weil ich immer noch unverheiratet bin. Sie war das einzige Mädchen im Dorf, das alleinstehend blieb, wegen ihrer Hässlichkeit, wie sie selbst sagt. Über Jahre, immer am 6. Mai, wurde sie, auf einer Schaukel sitzend, mit Brennnesseln geschlagen, denn das bringt Schönheit und Fruchtbarkeit. Der Gesang war dabei ein unverzichtbares Hilfsmittel.

Heute ist Baba Janka um die 90 Jahre alt und würde der Jugend gerne bei der Ehepartnersuche behilflich sein. „Es ist gar nicht so natürlich, dass man einen lebendigen alten Menschen in Ruhe lässt, gibt es in der Natur einen pensionierten Fuchs?“

Die nächste Station ist das Dorf Ribnova, in dem die Sängerin Kadrje lebt. Kadrje ist 24 Jahre alt, sie hat eine ungewöhnlich hohe, spitzige Stimme. Ohne Mikrofon und Keyboardbegleitung will sie aber für mich nicht singen. Am liebsten möchte sie als Tschalga-Sängerin ins Musikgeschäft einsteigen.

Im Dorf Satovca lebt die Sängerin Baba Geza, sie ist 82. Die Familie und der Gesang waren die wichtigsten Begleiter ihres Lebens. Heute lebt sie allein in Satovca. Als kleines Mädchen lernte sie das Singen von ihrer Großmutter. Die nahm sie gerne mit in die Berge, um Holz, Pilze und Kräuter zu sammeln. Rund 500 Lieder hat sie von ihrer Oma vermittelt bekommen. Der Aufbruch zur täglichen Feldarbeit war wie eine Prozession, bei der man Lieder je nach Jahreszeit oder anliegender Arbeit sang.

Auf den Küchentisch liegen Papierblätter mit 98 Liedern, die sie aufgeschrieben hat. Ihre Enkelinnen wollen vom traditionellen Gesang nichts wissen. Mit Tränen in den Augen wiederholt Baba Geza mehrmals: „Warum, warum, warum?“ Trotz allem will sie nicht aufgeben. Vor kurzem sah sie im Fernsehen einen Professor der Plovdiver Universität: „Er sprach sehr aufrichtig über die bulgarischen Lieder, wenn alles fertig aufgeschrieben wird, fahre ich nach Plovdiv, er soll sie alle haben – die Lieder.“

Das wahre, lebendige Zentrum ist die Schnapsbrennerei am Rande der Gemeinde. Das gut funktionierende Dorfunternehmen ist ein kleines Feldsteinhäuschen mit einer Feuerstelle und zwei Riesenboilern. Jeder der Dorfbewohner kann es in Anspruch nehmen. Es ist wohl die letzte intakte Einrichtung im Dorf. Jeder hat feste Termine und produziert im Durchschnitt um die 200 Liter Schnaps pro Jahr, zu einer Kostprobe sind alle willkommen. Die Baba Rada sagt lachend: „Es wäre ein Segen Gottes, wenn unsere Leidenschaft fürs Trinken der tägliche Broterwerb sein könnte.“ Ihr selbstgebrannter Feigenschnaps zergeht sanft auf der Zunge. Aufsuchen sollen wir die Elena Georgiewa und auch ihre Schwester, sagt sie. Zum Abschied legt Baba Rada sechs frische Eier in meine Jackentasche und eine Flasche Feigenschnaps dazu.

„300 Lieder, alles vergessen, einfach vergessen, gesungen habe ich seit 20 Jahren nicht mehr“, erzählt die 84-jährige Elena, während sie eine Wassermelone für mich aufschneidet. Mühsam versucht sie, sich an ein Lied zu erinnern. Um ihr auf die Sprünge zu helfen, fange ich selbst an zu singen. Vergeblich. „Vielleicht mit meiner Schwester zusammen?“ Elena wirft ein Tuch über den Kopf. Zügig laufen wir die Straße herunter. Vor jedem Haus liegen Berge von Tabakblättern, die die Frauen zum Trocknen auffädeln. Aufgeregt erzählt Elena den Nachbarn, dass eine Fremde zum Singen gekommen ist. Ihre Schwester Trendafila wird aus dem Bett geholt. Sie kann kaum laufen. Inzwischen kenne ich einige Rhodopenlieder und überrasche die Alten damit. Die Frauen sind begeistert und fangen selbst an zu singen. Über eine halbe Stunde lang kommt ein Lied nach dem anderen.

PROTOKOLL: KORNEL MIGLUS