Der verfluchte polnische Boden

Wessen gedenken? Ein Kongress in Potsdam widmete sich der Frage, wie sehr die Erinnerungspolitik weiterhin Deutsche, Polen und Juden auch jenseits von nationalen Grenzen verbindet. Viele israelische Jugendliche sehen jedoch in der polnischen Bevölkerung vor allem die Helfershelfer des Holocaust

In Polen herrscht Leidenskonkurrenz, wenn es um den Mord an den Juden geht

von CHRISTIAN SEMLER

In Potsdam, im modernen Annex des Alten Kutschstalls, ging letztes Wochenende ein schwieriger Ritt über den Parcour. ZeitgeschichtlerInnen aus Potsdam, Frankfurt (Oder) und Bochum hatten weitere deutsche sowie polnische und einen israelischen Kollegen eingeladen, um über das deutsch-polnisch-jüdische Dreieck der Erinnerungen zu diskutieren. Dabei sollte das Verhältnis von Erinnerung und Eigentum in den verschiedenen Erinnerungskulturen thematisiert und miteinander verglichen werden. Obwohl dieser Bezugsrahmen sich als zu verwickelt für eine vergleichende Analyse erwies, bot der Workshop doch Informatives und Bedenkenswertes.

Natürlich lieferten die gegenwärtigen Spannungen zwischen Polen und Deutschland auf der regierungspolitischen Ebene die schrille Hintergrundmusik. Es geht um das „richtige“ Erinnern. Die polnische (Regierungs-)Seite wirft der deutschen vor, sie vollziehe ein Art geschichtspolitischer Wende, deren Ziel es sei, aus den deutschen TäterInnen deutsche Opfer zu machen. Die deutsche Seite schweigt offiziell, lässt aber inoffiziell keinen Zweifel daran, dass sie die polnischen Befürchtungen für grundlos, zumindest aber für maßlos aufgebauscht und nationalistisch unterfüttert hält.

Umso erfreulicher, dass es in Potsdam nicht die Andeutung einer Trennungslinie gab, die entlang der nationalen Grenzen verlaufen wäre. Die vier polnischen ReferentInnen waren alles andere als Herolde des Polentums auf feindlichem Boden. Dariusz Stola zeichnete die einzelnen Etappen der polnischen und jüdischen Erinnerung an die Schoa nach, wobei er die polnische Angst vor der Leidenskonkurrenz als treibendes Motiv für die polnische Interpretation des Mordes an den Juden darstellte. Jüdisches Leid sollte nur im Rahmen des nazistisches Terrors gegen Polen begriffen werden. Eng verbunden mit der Selbstdarstellung als Opfer war die Vorstellung von dessen Unschuld. Weshalb die Diskussion über die Ermordung von Juden 1941 durch die polnische einheimische Grenzbevölkerung (Jedwabne) zu so starken Abwehrreaktionen führte. Auch jetzt noch fühlten sich viele Polen „gemeint“, was mit den starken „inklusiven“ Vorstellungen von Identität zusammenhängt.

Sofia Woycicka schilderte faktenreich die erstaunlich pluralistisch verlaufene Diskussion der unmittelbaren Nachkriegszeit über die Formen des Gedenkens in den ehemaligen Konzentrationslagern und die wesentliche Beteiligung der Opfergemeinschaften an ihr. Jerzy Kochanowski legte das Ergebnis empirischer Untersuchungen zur polnischen Sicht auf die Vertreibung der Deutschen vor, wobei, abhängig von Alter und Bildungsgrad, eine zunehmende Empathie gegenüber den Einzelschicksalen bei gleichzeitiger Billigung der Vertreibung zu beobachten war. Schließlich untersuchte Krzysztof Ruchniewicz die Windungen und Wendungen der polnischen Diplomatie hinsichtlich der Schadensersatzforderungen Polens wegen ziviler und privater Verluste auf polnischer Seite. Dabei war ebenso neu wie instruktiv die Schilderung der realsozialistischen Politik in den Siebzigerjahren, die an die Stelle offizieller Forderungen den Wunsch nach Krediten zu günstigen Konditionen und informellen Finanzhilfen setzte – mit Erfolg. So kassierte der Staat, was den geschädigten Einzelnen gebührt hätte.

In Israel erscheint der Holocaust als eine Art deutscher Betriebsunfall

Was sich in diesen Referaten angedeutet hatte, wurde mit Moshe Zimmermanns provozierendem Vortrag „Wo liegt Auschwitz, in Polen oder in Deutschland?“ zur Gewissheit: Die verschiedenen im Workshop untersuchten Seiten fügen sich zu keinem Triangel zusammen. Zimmermann legte Umfragedaten von israelischen SchülerInnen dar, die im Rahmen des „Marschs der Lebenden“ oder ähnlichen Unternehmungen deutsche KZs in Polen besucht hatten. In Übertragung ursprünglich religiöser Kategorien wie der der Reinheit/Unreinheit wird polnischer Boden von den meisten als unrein, als verflucht empfunden und die Polen in toto als Helfershelfer und Profiteure des deutschen Mordes an den Juden angesehen. Schlimmer noch – in den Umfragen erscheint der Holocaust als eine Art deutscher Betriebsunfall, während die Judenfeindschaft der Polen eine bis in unsere Tage fortwirkende Konstante sei. Über die Ursachen dieser Fehlwahrnehmung oder die naheliegende Frage, ob bei ihr die Schulausbildung oder das Alter eine Rolle spielt, konnte Zimmermann allerdings trotz wichtiger Einzelinformationen keinen Aufschluss geben.

Schade, dass während des Wochenendes das vielaktige Drama „Entschädigung der Zwangsarbeiter“ nicht als Lehrstück für die Problematik eines polnisch-jüdisch-deutschen Dreiecks nutzbar gemacht wurde. Lutz Niethammer, einer der Geburtshelfer des Entschädigungsfonds und für diese Zwecke der „geborene“ Referent, trat nur in der Rolle des Kommentators auf. Allerdings ist ihm eine klärende Auseinandersetzung mit den Thesen zu verdanken, die der Sozialpsychologe Harald Welzer zum Thema deutsche Opfer-Geschichtspolitik vortrug. Welzer entwickelte das Syndrom einer Wende in der deutschen Geschichtspolitik, die er mit einer Bestseller-Liste neuer deutscher Opferliteratur ebenso belegte wie mit der Selbstbeschreibung alt gewordener 68er als „Kriegskinder“ samt der Schädigungen, die mit diesem neu entdeckten Schicksal verbunden seien. Niethammer kritisierte in seiner Polemik dieses Syndrom als willkürliches Konstrukt. Und er betonte, quasi als Ausweg aus dem deutsch-polnisch-jüdischen Gedächtnislabyrinth, die allmähliche Wirkung von Lernprozessen. Die allerdings könne erst einsetzen, wenn alle Protagonisten das Zeitliche gesegnet hätten.