: Wie eine Prügelei in Potsdam zum Politikum wurde
Ermyas M.s Schicksal stieß im vergangenen Frühjahr, kurz vor der Fußball-WM, eine hitzige politische Debatte um No-go-Areas und Rassismus an
BERLIN taz ■ Während der 38-jährige Familienvater Ermyas M. im April 2006 mit schwersten Gehirnverletzungen im künstlichen Koma lag und um sein Leben rang, wurde sein Schicksal zum Politikum. Die Republik fieberte der Fußball-Weltmeisterschaft entgegen – Motto: „Die Welt zu Gast bei Freunden“. Und den WM-Organisatoren drohte wegen des Angriffs auf Ermyas M. ein PR-Desaster. In Potsdam gingen mehrere tausend Menschen gegen Fremdenhass und Gewalt auf die Straße. Oberbürgermeister Jann Jakobs sprach von einem „Angriff auf das Lebensgefühl aller Potsdamer“.
Der damalige Generalbundesanwalt Kay Nehm stritt sich öffentlich mit Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm (CDU). Nehm hatte wegen des vermuteten rassistischen Hintergrunds die Ermittlungen an sich gezogen. Schönbohm warf ihm vor, er habe „überzogen“. Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) sagte: „Es werden auch blonde blauäugige Menschen Opfer von Gewalttaten, zum Teil sogar von Tätern, die möglicherweise nicht die deutsche Staatsangehörigkeit haben. Das ist auch nicht besser.“
SPD-Generalsekretär Hubertus Heil warf Schäuble vor, er verharmlose „solch aggressiven Rassismus zumindest fahrlässig“. Exregierungssprecher Uwe-Karsten Heye warnte: „Es gibt kleine und mittlere Städte in Brandenburg und anderswo, wo ich keinem, der eine andere Hautfarbe hat, raten würde, hinzugehen. Er würde sie möglicherweise lebend nicht mehr verlassen.“ Es folgte eine heftige Debatte um No-go-Areas im Osten. Ende Mai musste Nehm den Fall an die Potsdamer Ermittler zurückgeben. Seine These von einem fremdenfeindlichen Mordversuch war nicht zu halten.
Ermyas M. äußerte sich im Stern später kritisch zu dem Medienrummel um die Tat. Natürlich sei es gut, dass Menschen gegen Rassismus auf die Straße gingen. Er wolle jedoch nicht in die Rolle als „lebender Beweis für Fremdenfeindlichkeit“ gedrängt werden. Gesundheitlich gehe es ihm inzwischen wieder ziemlich gut, berichtete M. vor einigen Monaten. Er könne sogar schon wieder mit seinen Kindern Fußball spielen: „Nur mit Kopfbällen lasse ich mir noch Zeit.“ AGX
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