Im Licht der Punkte

Die Deutsche Guggenheim zeigt die italienische Variante des Pointillismus: Der „Divisionismus“ inszeniert Licht und Natur mit viel Pathos und verbeugt sich vor dem Alltag der ArbeiterInnen

VON MARCUS WOELLER

Eine Menschenmenge, auf dreimal fünfeinhalb Metern, in kinematografischer Breite: Arbeiter und Bauern. Ihnen voran schreiten zwei Männer in Weste und Hut, die Jacken geschultert, entschlossen der Morgensonne entgegen. Eine Frau mit einem Baby im Arm kann oder will sie nicht aufhalten.

Das Kolossalgemälde „Der vierte Stand“ von Giuseppe Pellizza da Volpedo gehört heute zum kollektiven Bildgedächtnis Italiens. Vor der Kritik der Akademieausstellung 1902 in Turin fiel das Bild durch; beim Publikum war es ein großer Erfolg. Gewerkschaftspresse, sozialistische Tageszeitungen und Propagandablätter rissen sich um den Abdruck der politisch aufgeladenen Szene. Pellizza hatte zwar den Anspruch, gesellschaftskritische Themen zu verarbeiten, wollte aber auch die Kontrolle darüber behalten, vor welchen Karren er gespannt wurde. Schließlich hatte er nicht nur seinen Ruf als anarchistischer Aktivist zu verteidigen, sondern auch den als Protagonist der ersten italienischen Avantgarde der Moderne – des Divisionismus.

„Divisionismus“, das war der Name, den seine Vertreter ihrer Variante des Pointillismus gaben. Angeheizt durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse in der Optik und um die Funktionsweise des Auges experimentierten in Frankreich und Belgien zuerst Paul Signac und Georges Seurat mit dieser Technik, die im ausgehenden 19. Jahrhundert der Abstraktion die Tore öffnete. Die Ausstellung „Arkadien & Anarchie“ in der Deutschen Guggenheim erinnert nun an den italienischen Beitrag zur Farbpunktmalerei.

Die Farben werden hier als Punkte oder Striche nebeneinander auf die Leinwand gesetzt: Das Bild mischt sich erst im Auge des Betrachters und auf weitere Entfernung. In der Nahsicht wirken die Bilder pixelartig abstrakt. Charles Angrands „Die Ernte“ von 1887 mit seiner Ansicht von Heustapeln auf einer Weide zum Beispiel scheint den Rastersiebdrucken Roy Lichtensteins aus der Hochzeit der Pop Art näher als den Werken seiner impressionistischen Zeitgenossen. Auch die ewige Beschäftigung der Kunst mit der Darstellung des Lichts wird im Divisionismus um ein Kapitel weitergeschrieben. So zeigt Angelo Morbelli in seinem Bild „Festtag im Altersheim Pio Albergo Trivulzio“ nicht nur die Tristesse leerer Bankreihen und eingeschlafener Greise. Zum eigentlichen Sujet werden die beiden grellen Lichtflecke auf der Wand. Die durchs Fensterkreuz strahlende Sonne gewinnt eine körperhafte Präsenz in der leblosen Umgebung.

Pellizza benutzt die Punkttechnik weniger effekthascherisch und ordnet sie seiner Sozialkritik unter. „Der vierte Stand“ ist in der Berliner Ausstellung freilich nicht zu sehen – die Mailänder Civica Galleria d’Arte Moderna verleiht das Gemälde nicht. Doch „Botschafter des Hungers“ oder „Der Ertrunkene“ zeigen genauso seinen Einsatz für das Leben der unteren Schichten. Ins gleiche Horn stoßen Emilio Longoni, Giovanni Sottocornola oder Plinio Nomellini mit Porträts von Streikrednern oder Tagelöhnern auf dem Weg zur Arbeit. Die Kuratorin der Ausstellung, Vivien Greene vom New Yorker Guggenheim Museum, und die Autoren des Katalogs bemühen sich, die politische Rolle der Künstler in den Mittelpunkt zu stellen.

Interessanter als die Frage, ob die Maler nun Anarchisten oder Sozialisten waren, sind jedoch die Wege, die sie künstlerisch einschlugen. Denn im Gegensatz zu anderen Stilrichtungen der Klassischen Moderne konnte sich der Divisionismus nie als eigenständige Gattung etablieren, sondern ging sehr schnell in anderen Strömungen auf. Besonders die mystischen Themen des Symbolismus ließen sich bestens mit der dekorativen Technik der Divisionisten verbinden. Gaetano Previati etwa strichelt in charakteristischer Manier Engel, die den „Tanz der Stunden“ vollführen, und Liebende, die im Traum einer Blumenwiese entwachsen. Für Pellizza war hier der Grad des visuell Erträglichen und thematisch Zumutbaren längst überschritten. Schönheit bleibe zwar fraglos das erste soziale Merkmal der Kunst, betonte er 1905, bedürfe aber stets einer aktiven Teilnahme am Wandel der Gesellschaft. Eine idealistische Einstellung, an der Pellizza selbst scheiterte. Zwei Jahre später erhängte er sich in seinem Atelier.

Einen ästhetischen Sonderweg schlug Giovanni Segantini ein. Zunächst noch dem Realismus verbunden, fiel er mit eigenwilligen Allegorien auf, etwa seiner Huldigung der Mutterschaft mit der bildlichen Gleichsetzung von Kalb und Kuh im Stall. Seine letzten Jahre, er starb 1899, verbrachte Segantini als Teilzeiteinsiedler in der schroffen Bergwelt des Engadins. Hier verwandelte sich für ihn die divisionistische Malweise noch einmal zu einem anderen Werkzeug und entwickelte sich zur scheinbar einzig adäquaten Methode, den real existierenden Pathos der Natur einzufangen – und ihn gleichzeitig mit der Respektsbekundung vor dem schweren Alltag der Bevölkerung zu verbinden. In „Rückkehr vom Wald“ zeigt Segantini eine Holzsammlerin, die ihren vollbepackten Schlitten zurück ins Dorf zieht. In dem Ölbild von einer flirrend funkelnden Schneelandschaft vereinigt die Punkttechnik geschickt die realistische Darstellung mit ihrer symbolischen Überhöhung.

„Divisionismus/Neoimpressionismus: Arkadien & Anarchie“, Deutsche Guggenheim Berlin, Unter den Linden 13/15, bis 15. 4. Katalog: 35 Euro.