Mach mir den Bata Illic!

Es ist ein harter Kampf, aber irgendwann muss jeder beim Hardcore-Karaoke antreten

„Ich will weg, ich will raus, ich will – wünsch mir was“, begrüßte mich Volker feist-fröhlich und quittierte den Vogel, den ich ihm zeigte, mit der gleichen Lebensfreude. „Lange nichts mehr aufgetankt, die Batterien sind leer.“

„Unser Lied!“, sagte ich mit bitterem Sarkasmus in der Stimme und ging erst mal hinein ins immer noch weihnachtlich geschmückte Wohnzimmer, begrüßte die anderen Partygäste, die aber keine Notiz von mir nahmen, weil sie alle auf den alten Nordmende starrten. Da verstand ich, was er mir sagen wollte. Er hatte wieder dieses ziemlich ausgefuchste Karaoke-Tool an den Fernseher angeschlossen. Das Gerät konnte die rhythmische Akzentuierung, tonale Sicherheit und vermutlich sogar die Seele des Vortrags in Zahlen umrechnen, maßte sich also an, warmer menschlicher Sangesleistung die eisernen Zügel des Fordismus anzulegen. Als ich es zum ersten Mal sah, ertappte ich mich dabei, meinen Vater zu zitieren: „Mensch, was die heute schon alles machen!“

Man sang also das Lied nach, und am Ende hatte man 3.000 Punkte und musste sich von der Maschine als „Lutscher“ oder – Höchststrafe! – „Rex Gildo“ beschimpfen lassen. „Wir wollten mal was anderes machen auf unserer Party“, erklärte die Gastgeberin, Volkers Gattin. „Nicht immer nur stumpf saufen!“ – „Ja, aber warum denn nicht?“, sagte ich und sah mich hilfesuchend um. Aber da war keiner, der mir beigesprungen wäre. Sie wollten es alle schaffen – in die „Bata Illic“-Kategorie, 6.000 Punkte aufwärts.

Ich fühlte mich unbehaglich, nicht zuletzt weil man längst zwei Mikros an das Gerät angeschlossen hatte und gegeneinander antrat, was diesem Abend einen unguten Zug ins Kompetitive verlieh. Eine „Mensch-ärgere-dich-nicht“-Kindheitsreminiszenz von Weihnachten 1971 stieg jäh in mir auf, die von Rechts wegen familientherapiert gehört hätte. Ich verscheuchte sie wie eine räudige Gullyratte. Zwei Zahlenticker spurteten jetzt nebeneinanderher auf dem Bildschirm, immer angetrieben von den jölenden Stimmen, die sich an ihre Grenzen wagten und diese nicht selten unappetitlich weit überschritten. Ich sah zu und trank. Was blieb mir sonst noch?

Aber die ganze Zeit suchte der Gastgeber meine Nähe und streute in unser Gespräch sinnlose Sentenzen ein, die mich offenbar aus der Reserve locken sollten. Ich fragte ihn nach seinem geplanten Skiurlaub und ob er ihn nicht lieber mangels Schnee absagen wolle. Er antwortete feixend: „Der triste Himmel macht mich krank. Ein schweres, graues Tuch.“ Ein paar Minuten später erkundigte ich mich, ob er auch noch eine Jolle mittrinke. Er nickte eifrig. „Solange der Kleine da im Spiegel noch grinst.“ Irgendwann platzte mir der Kragen. „Du Sau, jetzt bist du so was von fällig.“ Und ich rief in den Kreis. „Na los, legt endlich ‚Abenteuerland‘ auf, er will es ja nicht anders haben.“

Volker ging bis zur ersten Bridge leicht in Führung. Der Hund hatte sich vorbereitet. Aber schon im Chorus ölte ich mich unaufhaltsam heran, ließ den Zahlenticker auf meiner Seite hyperventilieren. Du hast sie, die Ideallinie, du bist voll drauf, dachte ich glücklich. Genau auf der Schleimspur. „Du kannst flitzen, flippen, fliegen und das größte Pferd kriegen“, schmodderte ich lau. „Du kannst tanzen, taumeln, träumen und die Schule versäumen.“ Ich ekelte mich vor mir selbst. Aber da hatte mein Freund auch schon verloren. Auf diesem Felde würde er immer verlieren, und jetzt schien es ihm auch aufzufallen.

Schließlich demütigte ich ihn noch ein bisschen, indem ich nebenbei Kniebeugen zu machen begann. Als ich ein paar einhändige Liegestützen anschloss, gab er das Mikro seiner Frau und rannte, eine volle Blase vortäuschend, aufs Klo, um die heißen Tränen der Niederlage zu verbergen. Dann hieß es abrechnen. 7.500 Punkte! Bata Illic! Von mir aus konnte das neue Jahr so weitergehen. FRANK SCHÄFER