Alltag und Groteske

Neues aus dem Kinowunderland: Das Programm der Berlinale zeigt, dass sich in Korea im Schatten von Blockbuster-Besucherrekorden eine vielfältige Independent- und Arthouse-Szene entwickelt hat

Ein Antiheld mit Horror davor, Sex mit Frauen zu haben, die mit deutschen Männern geschlafen haben

VON EKKEHARD KNÖRER

Das südkoreanische Kino eilt von Erfolg zu Erfolg. Der Präsenz in heimischen Kinosälen hat auch die nach langem Drängen von amerikanischer Seite umgesetzte Einschränkung der 40-Prozent-Quote für koreanische Produkte wenig anhaben können. Mehr als 100 koreanische Filme kamen 2006 in die Kinos und mit mehr als 13 Millionen Besuchern hat Bong Jun-hos Polit-Monster-Komödien-Horrorfilm „The Host“ – demnächst auch in deutschen Kinos zu sehen –“ im letzten Jahr den jüngsten in einer erstaunlichen Serie von Besucherrekorden aufgestellt. Im Schatten der Blockbuster entwickelt sich zusehends auch eine vielfältige Independent- und Arthouse-Landschaft. Das führt die Berlinale-Auswahl koreanischer Filme in diesem Jahr eindrucksvoll vor Augen.

Der neben Kim Ki-duk („The Isle“) und Park Chan-wook (mit „Ich bin ein Cyborg, aber das macht nichts“ im diesjährigen Wettbewerb) international angesehenste Autorenfilmer des Landes ist Hong Sang-soo. Hinter den scheinrealistischen Oberflächen seiner Filme verbergen sich stets rätselhafte Sprach- und Wiederholungsstrukturen, die auf den ersten Blick nur als Irritation in den narrativen Abläufen aufflackern – bei genauerer Betrachtung aber in Spiegelkabinette der Reflexion führen. In „Woman on the Beach“ (Panorama) variiert Hong die aus seinem bisherigen Werk vertrauten Motive um jämmerliche Männer, die sich betrinken und durch Irrgärten der Liebe taumeln, ohne dabei sich oder die Frauen, die sie begehren, glücklich zu machen. Mit beinahe fröhlichen Musik-Intermezzi und ins Absurde spielenden Non-Sequiturs nähert Hong sich entschlossener als zuvor der Komödienform, ohne die oft atemberaubende Bösartigkeit seiner Porträts deshalb aufzugeben. Schauplatz des Liebes- und Demütigungsreigens ist diesmal zum großen Teil ein verlassener Badeort am Meer. Zu den irritierenden Charakterzügen des Filmregisseurs als Antihelden mit Namen Kim (Go Hyun-jung) gehört nicht zuletzt sein Horror davor, Sex mit einer Frau zu haben, von der er weiß, dass sie mit deutschen Männern geschlafen hat.

Im Vergleich mit seinem Debüt „This Charming Girl“, das 2005 auf der Berlinale zu sehen war, ist Lee Voon-kis dritter Film „Ad Lib Night“ (Forum) eine leise Enttäuschung. Die stärksten Szenen hat er gleich zu Beginn. Zwei junge Männer sind, mitten in Seoul, auf der Suche nach einer früheren Mitschülerin, der Tochter eines Mannes, der im Sterben liegt. In einer jungen Frau (Han Hyo-ju) glauben sie die Gesuchte zu erkennen. Sie sprechen sie an. „Ich bin es nicht, ihr müsst mich verwechseln“, sagt sie. Und doch steigt sie mit den beiden ins Auto, willigt ein, die Tochter zu spielen, die sie nicht – oder vielleicht doch? – ist. Minutenlang die Autofahrt durch Seoul, hinaus aufs Land, wo die Familie um den Sterbenden versammelt ist. Viel geschieht nicht, Gesellschafts- und Familienverhältnisse werden anskizziert, vieles bleibt absichtlich unklar. „Ad Lib Night“ beruht auf einer japanischen Kurzgeschichte, und zuletzt bekommt man doch den Eindruck, dass die Idee einen Spielfilm nicht über die volle Länge trägt.

Am anderen Ende des ästhetischen Spektrums liegt E. J-Vongs Film „Dasepo Naughty Girls“ (Panorama), eine eifrig um Transgression bemühte Adaption eines Online-Comics. Leider will die campy-kitschige Szenenrevue um die sexbesessenen Schüler einer multireligiösen Schule kaum einmal zünden, stattdessen schlingert sie als Knallchargen-Comedy mit Zyklopen und Transgender-Scherzen über die Leinwand. Inszenatorischer Aufwand und komischer Ertrag stehen so in beträchtlichem Missverhältnis.

Die beiden wohl verblüffendsten koreanischen Filme im Berlinale-Programm sind Lee Hae-juns und Lee Hae-youngs „Like a Virgin“ (Generation) und Leesong Hee-ils Debüt „No regret“ (Panorama). Sie behandeln denkbar souverän die Themen Homo- und Transsexualität. Das ist umso erstaunlicher, als Homosexualität in Südkorea zwar legal ist – in Seoul existiert auch eine kleine Schwulenszene –, in der Öffentlichkeit und im Kino aber lange kaum thematisierbar war. Vor wenigen Jahren hat das spektakuläre Coming-out eines beliebten TV-Komikers die öffentliche Diskussion in Korea in Gang gebracht. Im Independent-Kino zeigt sich jetzt, wie schnell sich die Dinge entwickeln – denn von Vorsicht oder Zögerlichkeit im Umgang mit dem Tabuthema ist im Debütfilm der Regisseure Lee Hae-jun und Lee Hae-yeong nichts zu spüren. Schon in der ersten Szene singt der junge Dong-ku (Deok-hwan Ryu), des Englischen nicht mächtig, Madonnas „Like a Virgin“ schief mit. Das Schiefe und das Singen: Beides wird den Ton des Films bestimmen, der dem Traum seines Helden, eine Frau zu werden, eine Chance gibt. Unwahrscheinlich genug ist der Weg zum Erfolg. Dong-ku nämlich wird Ringer und erweist sich dabei als Naturtalent. Vom Preisgeld eines wichtigen Kampfes möchte er eine Geschlechtsumwandlung bezahlen. Der Plot erinnert an den thailändischen Film „Beautiful Boxer“ (2003); wo der aber mit queerem Glam im Ring überzeugt, setzt „Like a Virgin“ nicht weniger erfolgreich auf die Kreuzung von Alltag und Groteske.

Noch direkter nähert sich Leesong Hee-il, der erste offen schwule Spielfilmregisseur Koreas, in seinem Langfilmdebüt „No Regret“ der schwulen Liebesgeschichte um Su-min (Lee Yeong-hoon), der aus dem Waisenhaus in der Provinz nach Seoul kommt und dort als Strichjunge den reichen Jae-min (Lee Han) lieben und hassen lernt. Wie selbstverständlich zeigt Leesong schwules Begehren und schwulen Sex – und bettet den Kampf seiner Helden um die Chance für eine unmögliche Liebe in ein wenig schmeichelhaftes Porträt der koreanischen Gesellschaft. „No Regret“ ist eine echte Entdeckung – ein milieurealistisches Melodram, unkonventionell erzählt, mit abrupten Tonlagenwechseln, ohne Angst vor großen Bildern und Gefühlen. In Südkorea sorgte der Independent-Film in den wenigen Kinos, in denen er gezeigt wurde, für großen Andrang. Hier ist offenbar etwas in Bewegung geraten.

weitere Infos: www.berlinale.de