Ein Stadtplan der Unsicherheit

Erstmals zeigt eine Karte, wie bedroht sich die Berliner in ihren Vierteln fühlen. Im europäischen Vergleich landet Berlin im Mittelfeld. Kritiker befürchten Stigmatisierung bestimmter Quartiere

von Felix Lee
und Matthias Lohre

Wo ist man wie sicher in Berlin? Das ist die Grundfrage hinter einer neuen Studie zur Kriminalität in europäischen Metropolen. Die Ergebnisse werfen ein diffuses Licht auf die Verbrechenslage in einzelnen Vierteln der Hauptstadt. Vor allem aber zeichnen sie ein Bild der gefühlten Bedrohung der Berliner – mit möglichen Folgen für die Bevölkerungsstruktur. Kritiker bescheinigen der Studie, die im Auftrag von EU, Max-Planck-Institut und der UN-Organisation Unicri entstanden ist, Panikmache.

In Berlin befragte das Meinungsforschungsinstitut Gallup Europe im Jahr 2005 mehr als 600 Menschen zu ihrem Sicherheitsempfinden. Auf die Frage „Wie sicher fühlen Sie sich allein in Ihrer Nachbarschaft bei Dunkelheit?“ antworteten zwei von drei Befragten mit „ziemlich sicher“ beziehungsweise „sehr sicher“. Immerhin 22,3 Prozent zeigten sich „etwas unsicher“, jeder Zehnte sogar „unsicher“. Neben den Antworten notierten die Meinungsforscher auch den Wohnort des Befragten und zeichneten so einen Stadtplan der gefühlten Unsicherheit. Denn in die 18 Berlin-Karten sind keine amtlichen Kriminalitätsstatistiken eingeflossen. Insgesamt kommt Berlin auf einen mittleren Rang unter den zehn näher untersuchten Großstädten wie London, Amsterdam und Rom. Die Ergebnisse der sogenannten EU ICS-Studie sind als Stadtpläne aufbereitet im Internet einsehbar unter gis.geox.hu/crimemap/cs/keret.asp.

Schief wirkt die Wiederga- be der Umfrageergebnisse beispielsweise bei der Frage nach Behördenkorruption. Nur drei der 600 Befragten geben an, in den vergangenen fünf Jahren um Bestechungsgelder angegangen worden zu sein. Die Wohngebiete jedes der drei Ja-Sager – in Mitte und Friedrichshain – stechen aus der Karte farbig heraus. Ganze Stadtviertel werden so durch die nicht überprüfte Angabe eines Einzelnen mit Korruption in Verbindung gebracht.

Die Reaktionen auf die Karten fallen gemischt aus. Berlins Datenschutzbeauftragter Alexander Dix begrüßt diese Form der Transparenz. „Aus datenschutzrechtlichen Gründen gibt es bei dieser Statistik keine Bedenken.“ Was ihn besonders freut: Während London mit einer Rekorddichte an Videokameras ganz oben in der Rangliste der Angst liegt, rangiert Berlin mit weit weniger Kameras im europäischen Vergleich im Mittelfeld. „Offensichtlich tragen Videokameras zum Unsicherheitsgefühl nur zusätzlich bei“, urteilt Dix.

Keine Bedenken gegen die Art der Datenerhebung hat Statistik-Experte Bernd Droge von der Humboldt-Universität. 600 sei eine Zahl, die für solche Zwecke durchaus repräsentativ ist. Doch wesentlich sei die Frage, ob es sich bei den Befragten um einen Querschnitt der Bevölkerung handelt. Davon könne man bei dieser Erhebung aber ausgehen.

Weit skeptischer zeigt sich Mieterverein-Chef Hartmann Vetter: „Diese Studie könnte zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden.“ Wer über seine Nachbarschaft negativ urteilt, verstärkt das schlechte Image der Gegend. Künftig könnten solvente Mieter anhand solcher „gefühlten Fakten“ einen Bogen um schlecht beleumundete Gegenden machen. Der Abwärtstrend wäre dann herbeigeredet.