Realistische Renegaten

Bernd Volkert hat eine lesenswerte Ideengeschichte des amerikanischen Neokonservatismus geschrieben

Was ist ein Neokonservativer? „Ein Liberaler, der von der Realität überfallen wurde.“ Diese durchaus selbstironische Definition hat Irving Kristol einmal formuliert, der vielen als der Vater des amerikanischen Neokonservatismus gilt. Auf hiesige Leser wirkt der Satz befremdlich, da der Terminus „neokonservativ“ in den aktuellen Debatten weitgehend negativ konnotiert ist.

Diesem Image und seinen Ursachen geht der Berliner Politologe Bernd Volkert in einer Studie nach und fördert dabei Erstaunliches und Vergessenes zutage. Die meisten Intellektuellen, die unter das von Kritikern aufgedrückte und später mehr oder weniger akzeptierte Label „neokonservativ“ fielen, stammten aus der Bürgerrechts- und Anti-Vietnamkriegs-Bewegung. Angesichts des Scheiterns linker Ideologien auf weltpolitischer Bühne wäre es jedoch zum Bruch mit der utopisch motivierten Mehrheitslinken gekommen.

Die Renegaten stellten sich auf die Seite der von ihnen als „vital center“ des Liberalismus wahrgenommenen USA, da das freiheitliche Gesellschaftssystem gegen Bedrohungen durch totalitäre und antiliberale Tendenzen bei allen seinen Unzulänglichkeiten zu verteidigen sei. Dabei beschäftigten sich die Neokonservativen zunächst mit inneramerikanischen Problemen. Vor allem die groß angelegte interventionistische Sozialpolitik von Präsident Lyndon B. Johnson und das Aufkommen einer Protestbewegung seien, so Volkert, Auslöser für die intellektuelle Kritik aus der Linken an der Linken gewesen.

Diese Kritik mündete jedoch keineswegs in einen Neoliberalismus. Vielmehr ging es den Neokonservativen um die Ablehnung eines Sozialprogramms, das in ihren Augen auf illusorische Weise gesellschaftliche Übel wie Armut und Diskriminierung per Dekret zu beseitigen versuchte und dabei Gefahr lief, das Verhältnis von Staat und Bürger umzukehren. Die Protestbewegung ihrerseits galt ihnen nicht als Attacke gegen die Missstände eines unerfüllten bürgerlichen Freiheitsversprechens, sondern als Angriff auf das Versprechen selbst.

Erst allmählich wandte sich der Neokonservatismus außenpolitischen Fragen zu. Als Auslöser dafür sieht Volkert vor allem antisemitische und israelfeindliche Positionen sowie einen fundamentalen Hass auf die USA, den die Neokonservativen zunächst innerhalb der Protestbewegung beobachteten und dann auch international, so etwa bei der UNO.

Parteipolitisch ließen sich einige Neokonservative zunächst auf die Demokraten ein, doch auch hier diagnostizierten sie schon bald antiliberale Verschiebungen, weil die Partei sich gegenüber der Protestbewegung öffnete. Obwohl die Neokonservativen ihr Engagement später zu den Republikanern verlagerten, blieben sie dem Parteienspektrum fremd und wurden von konservativen Rechten als Diener fremder Interessen angefeindet.

Zudem erkannten sie hier ebenso Tendenzen einer Appeasement-Politik. Selbst von der Regierung Ronald Reagans, in der sie zum ersten Mal einige Beraterfunktionen übernahmen, zeigten sie sich in dieser Hinsicht schon bald enttäuscht. Nachfolgende US-Regierungen blieben von ihrer Kritik ebenfalls nicht verschont. Selbst die Frühphase der Ära von Bush jr. sahen sie als von isolationistischen Tendenzen geprägt.

Volkert ist eine detailreiche und gleichzeitig übersichtliche Studie der neokonservativen Ideengeschichte gelungen, die gerade durch ihre Nüchternheit überzeugt. Angesichts der zahlreichen antiamerikanischen Werke hierzulande könnte sie etwas Farbe in das eintönige Bild des intellektuellen Amerikas bringen. YVES PALLADE

Bernd Volkert: „Der amerikanische Neokonservatismus. Entstehung. Idee. Intentionen“. LIT Verlag, Berlin 2006, 19,90 Euro