Retten Sie Trepaschkin!

Der russische Regisseur Andrei Nekrasow schreibt einen offenen Brief an seinen Präsidenten Wladimir Putin

Sehr geehrter Herr Präsident,

Ende vergangenen Jahres sind zwei unserer Landsleute, zwei meiner Freunde, ermordet worden. Viele hielten die beiden für Ihre Feinde, und aus diesem Grunde wurden Sie beschuldigt, diese Morde, direkt oder indirekt, organisiert zu haben. Eine ernsthafte Grundlage für diese Anschuldigungen gibt es heute nicht. Besorgniserregend ist jedoch, wie Sie auf diese Morde reagiert haben. Ihr Wunsch, die Bedeutung von Anna Politkowskaja und Alexander Litvinenko zu schmälern, war ebenso wenig zu übersehen, wie sie auch ungerecht war. Beide waren zu ihren Lebzeiten ein bedeutender Teil unseres gesellschaftspolitischen Raumes, und ihr Märtyrertod ist schon jetzt für immer als ein trauriger Klang in die russische Geschichte eingegangen.

Die Fragen, die mit diesen Morden verbunden sind, sind möglicherweise für die Staatsmacht nicht angenehm. Dennoch beruhen sie auf dem legitimen Interesse der Gesellschaft. Die Demokratie unterscheidet sich von einem autoritären Regime dadurch, dass es niemandem erlaubt ist, auch nicht dem Präsidenten, in der Gesellschaft das Streben zu unterdrücken, die vielseitige Neugier zu befriedigen. Die Tragödie, die Ihrer Meinung nach in den Grenzen des Privatlebens der Familie Litvinenko hätte bleiben und nicht „für politische Provokationen benutzt“ werden sollen, ist für die nächsten Verwandten des Verstorbenen ein Ereignis von großer politischer Tragweite. Denn Alexander ist nicht an Krebs gestorben, sondern an Polonium 210, und er ist nicht zufällig gestorben, sondern in Verbindung mit dem, was er gesagt und geschrieben hat. In der freien Welt, zu der man ja auch gerne Russland zählen würde, gilt nicht die erhöhte Aufmerksamkeit für den Umstand, dass „im Körper eines Menschen Gift gefunden wurde“ (so die Äußerung eines russischen Beamten), als unnormal, sondern der Versuch, die Bedeutung sowohl dieses beispiellos grausamen Mordes als auch der Person Litvinenko herunterzuspielen. Das ist keine Frage der Werbung, sondern eine der menschlichen Werte. Ich versichere Ihnen, dass nicht nur der enge Kreis politischer Emigranten, sondern auch die alles andere als naive britische Öffentlichkeit vor Schock und Empörung beim Anblick eines Menschen, der für seine Ansichten gestorben ist, gezittert hat.

In Ihren letzten Äußerungen zum Fall Litvinenko haben Sie gesagt, dass er über keine geheimen Informationen verfügte. Das sollte wie ein Beweis dafür klingen, dass die Geheimdienste Russlands nicht in den Mord verstrickt waren. Heißt das etwa, dass sie darin hätten verstrickt sein können, wenn Litvinenko über geheime Informationen verfügt hätte? Bekanntermaßen glauben viele, dass im Interesse des Staates alles erlaubt ist, sogar ein Mord. Doch es ist auch bekannt, dass einem Staat nicht nur die Preisgabe geheimer Informationen schaden kann, sondern auch das Öffentlichmachen aufrührerischer Ansichten. Die Grenzen zwischen diesen beiden Bereichen waren und sind oft fließend. Was tat Litvinenko auf seiner berühmten Pressekonferenz im Jahr 1998? Kritisierte er den FSB, oder gab er geheime Informationen preis? Ich bin bereit, Ihrem Ausspruch zu folgen, dass Litvinenko nicht über geheime Informationen verfügte; er sah das genauso und sprach mit mir darüber. In diesem Punkt war er mit Ihnen einverstanden. Dagegen nicht einverstanden mit Ihnen sind jene, die er kritisiert hat. Sie bezeichnen ihn als Verräter. Deren Ansicht nach war Litvinenko natürlich in Geheimnisse eingeweiht, die er nicht über die Grenzen dieser geheimen Organisationen hätte hinaustragen dürfen. Die Frage lautet, inwieweit diese Geheimnisse als staatlich anzusehen sind.

Und so kommt es, dass jetzt die Gesundheit und vielleicht sogar das Leben eines weiteren Freundes von mir gefährdet sind. Er heißt Michail Trepaschkin und wurde offiziell beschuldigt, Staatsgeheimnisse öffentlich gemacht zu haben. Merkwürdigerweise sprachen aber Litvinenko und Trepaschkin über die gleichen Dinge. Über die Hyperkorruption in den höchsten Etagen des FSB, über „Unstimmigkeiten“ in den offiziellen Versionen über die explodierten Moskauer Wohnhäuser im Jahre 1999 sowie die Verminung des Hauses in Rjasan. Wenn Sie, analog zu Litvinenko, wenngleich aus Verachtung, über Trepaschkin gesagt hätten, dass er nicht über geheime Informationen verfügt, so wäre dieser schwerkranke und verzweifelte Mensch wahrscheinlich schon von den täglichen Qualen erlöst, denen er im Straflager Nischni Tagil ausgesetzt ist. Was hindert Sie daran, so zu handeln? Ich bin kein Ermittler, als Dokumentarfilmer jedoch bin ich sehr gut darüber informiert, was Trepaschkin in den vergangenen Jahren gesagt und getan hat. Er ist Ihr Gegner, aber kein Verbrecher.

Als Mensch und Staatsbürger haben Sie ein Recht auf strenge Ansichten, ja sogar auf Hass gegen jene, die Sie für Feinde Russlands halten. Doch als Präsident Russlands können Sie nicht ignorieren, dass der Hass auf die Feinde Russlands heute von dem vielköpfigen Monster der russischen Korruption als Alibi benutzt wird. Unsere Korruption, das sind nicht nur Schmiergelder in Milliardenhöhe, Geldwäsche und Schutzgelder. Die Korruption ist bis in die Seele der Nation vorgedrungen, sodass die Liebe zur Heimat auf dem Altar von Stammtischpolitik und dunklem Business verkauft wird. Eine derartige Profanierung des Patriotismus widerspricht den Interessen Russlands und, so möchte man glauben, auch Ihren eigenen. Antworten Sie bitte dem Volk und auch sich selbst: Was ist patriotisch – zu versuchen, alle Umstände des Todes eines unschuldigen Landsmannes aufzuklären oder sie geheim zu halten? Die Korruption im FSB zu kritisieren oder sie zu verschweigen, um die „Ehre“ der Uniform zu retten?

In den Augen der ganzen Welt werden Sie nicht nur von denjenigen diskreditiert, die Ihren Opponenten an Ihrem Geburtstag töten, sondern auch von solchen, die in Ihrem Namen erklären, die Staatsmacht zu verdächtigen, ihre eigenen Bürger zu töten, sei die Ausgeburt einer kranken Fantasie. Die Staatsmacht hat bereits ihre Bürger verbrannt, vergiftet, in die Luft gejagt und erschossen. Sich mit Demagogie über die theoretische Unmöglichkeit von Terror gegen die eigene Bevölkerung um konkrete Fragen zu drücken ist unmoralisch, unlogisch und kurzsichtig. Oh weh, genau mit diesem kalten Hochmut treten Sie auf und schauen dabei „von oben“ (das sind ihre eigenen Worte) auf die „Verschwörungstheorie“ und dabei in Wahrheit auf ganz praktische Fragen des Lebens und des Todes von Menschen. Genau dieses machtvolle „von oben“ ist es wohl, was Sie mit Ihren Ideologen „souveräne Demokratie“ nennen. Mit einer echten Demokratie hat das nichts zu tun. Aber Sie irren auch noch in einem anderen Punkt. Eine solche Staatsmacht ist nicht nur undemokratisch, sondern auch instabil. Die Zahl der Heuchler und Zyniker in unserer Gesellschaft unter dem Deckmantel des Pseudopatriotismus scheint schon die nationale Sicherheit zu bedrohen und die Präsidialmacht zu kompromittieren. Währenddessen lebt das Gewissen Russlands in solchen Menschen wie Trepaschkin. Überraschen Sie Ihre Kritiker. Retten Sie Trepaschkin!

Aus dem Russischen von Barbara Oertel