PUTINS AUFTRITT IN MÜNCHEN FÜHRT NICHT ZUM „KALTEN KRIEG“ ZURÜCK
: Verteidigung der Einflusszone

Stehen wir nach Wladimir Putins glänzend inszenierter Polterrede auf der Münchner Sicherheitskonferenz vor einem neuen Kalten Krieg, wie manche Beobachter schon fürchten? Davon kann keine Rede sein. Es ist eher so, dass Putins Russland aus der nachhaltigen Schwächung der USA seine strategischen Vorteile zieht. Man verliert eben nicht umsonst einen Krieg, den man mit Einsatz von so viel Prestige begonnen hat.

Doch mit einer Neuauflage der bipolaren Systemkonkurrenz hat diese Entwicklung nichts zu tun. Im Milieu der Militärpolitiker setzt sich langsam die Einsicht durch, dass es Zeit ist, Abschied von einer Schimäre zu nehmen: von der Vorstellung der USA als Welthegemon, der allein fähig sei, kraft seines überragenden Militärpotenzials allüberall die „Pax Americana“ herbeizuführen.

Auch die Reaktionen deutscher Politiker auf Putins Rede zeugen von dieser Einsicht. Unabhängig von parteipolitischen Verortungen wurde dem russischen Präsidenten attestiert, er habe bei einer Reihe von Themen, vor allem der geplanten Stationierung von Raketenabwehrsystemen in Osteuropa, eine berechtigte Sorge artikuliert. Das Gleiche gelte, abgeschwächt, auch für die Stationierung von US-Truppen an der russischen Grenze.

Die Kritik europäischer und kanadischer Politiker am geplanten Raketenschild der USA macht sich daran fest, dass dieser das Kernstück jeder Militärstrategie, die sich auf Atomwaffen stützt, ausschaltet: die gegenseitige garantierte Vernichtung, mutual assured destruction (MAD) genannt. Damit würde eine erneute Spirale des Wettrüstens eingeleitet. So gesehen, hat Putin nicht nur einen russisch-westlichen Gegensatz berührt.

In deutschen Medien wird zur Analyse der russischen Politik häufig mit Allerweltspsychologie hantiert: Man habe Russland herablassend behandelt, sein Streben nach Anerkennung nicht zur Kenntnis genommen. Deshalb komme es darauf an, ihm das Gefühl zu geben, zur Familie der Gutsituierten „dazuzugehören“. Verletzter Stolz wurde so als alleinige Quelle des russischen Zorns auf „den Westen“ ausgemacht. Demgegenüber hat Putin in München klargemacht, dass es ihm nicht um Sehnsucht nach Anerkennung, sondern um geostrategische Interessen und Einflusszonen geht.

Dies in Rechnung zu stellen – sprich: auch russische Sicherheitsinteressen ins eigene Kalkül einzubeziehen – hat nichts mit einer Appeasement-Politik gegenüber Putin, dem Autokraten, zu tun. Es bedeutet auch nicht, zu erheblichen Menschenrechtsverletzungen in seinem Machtbereich zu schweigen. Aber davon führt noch kein Weg zum Glaubenskrieg der bipolaren Welt zurück.

CHRISTIAN SEMLER