Arno Frank über GESCHÖPFE
: Der fliegende Bierdeckel

Friedrich Merz war der größte Bierdeckel-Künstler – bis Ahmed zu basteln anfing

Unlängst las ich die seltsame Nachricht, der CDU-„Hoffnungsträger“ Friedrich Merz ziehe sich „aufs Altenteil“ zurück. Ich konnte seine Entscheidung gut verstehen. Es kann auf Dauer nicht gesund sein, die Hoffnungen einer großen Volkspartei auf den schmalen Schultern balancieren zu müssen. Vor allem, wenn man nebenbei noch die Steuerreform auf einem Bierdeckel erklären oder sein Moped frisieren muss.

Unter solchen Umständen würde ich mich auch lieber „aufs Altenteil“ zurückziehen, das man sich getrost als lustige Mischung aus Eldorado und Elefantenfriedhof vorstellen darf. Eine Perspektive, über die ich beim Abwasch ein wenig nachsinnen wollte. Und wie ich so in der Küche stand, flog plötzlich – tock! – ein Bierdeckel gegen das Fenster.

Ja, ein Bierdeckel. Und nein, es ging kein Windhauch. Neugierig spähte ich hinab in den Hof. Wer mir da wohl einen Streich spielte? Aber da war niemand.

Für ein, zwei Sekunden noch stand der Bierdeckel unschlüssig in der Luft vor meinem Fenster, dann kippte er über die rechte Flanke in die Tiefe. Ich konnte noch erkennen, wie er seinen Sturzflug wenige Meter über dem Boden abfing und zwischen den Fahrrädern wieder an Höhe gewann, bis er eine sanfte Kurve beschrieb und hinter den Weiden aus meinem Blickfeld tanzte. Sagenhaft.

Hätte ich jemals LSD geschluckt, so würde ich den Vorfall für einen der berüchtigten Flashbacks gehalten haben. So aber überkam mich einfach nur das absurde Bedürfnis, jetzt sofort mein Moped zu frisieren.

Auf dem Weg zur Garage begegnete ich dem kleinen Ahmed, einem achtjährigen Jungen aus dem Nachbarhaus. Ahmed ist das, was man ein „aufgewecktes Kerlchen“ nennt. Im vergangenen Sommer hatte ich ihn einmal dabei ertappt, wie er einer Kröte rektal einen Strohalm eingeführt hatte und gerade im Begriff war, das Tierchen durch beherztes Aufblasen zum Platzen zu bringen. Ein Klassiker! Ich nahm ihm die Kröte weg und zeigte ihm stattdessen, wie man tote Fliegen in nur drei einfachen Schritten wieder zum Leben erweckt.

Der Trick ist kinderleicht, man braucht dazu nur ein Glas Wasser, etwas Salz und eine Fliege. Die Fliege sollte zunächst lebend gefangen werden, damit man sie anschließend ertrinken lassen kann. Fliegen haben keine Lungen, sondern kleine Belüftungskanäle, die sogenannten Trichinen. Sind die erst mal voll Wasser gelaufen, hört das Gezappel auf und die Fliege treibt wie tot an der Oberfläche. Spätestens dann sollte man die Fliege wieder aus dem Wasser holen und behutsam im Salz wenden, als wolle man sie pökeln. Nach einer Weile hat das Salz das Wasser aus den Trichinen gesaugt, die Fliege erwacht, putzt sich verdutzt und startet, sobald die Flügel getrocknet sind, zu neuen Abenteuern durch. Es ist natürlich pervers, tut aber niemandem wirklich weh. Ahmed war begeistert.

Diesmal aber erwiderte er mein fröhliches „Salam!“ nur mit einem abwesenden „Hallo, Biker!“, um sich wieder in sein seltsames Spiel zu vertiefen. Was genau er dort trieb, konnte ich nicht erkennen. Jedenfalls schien er sehr beschäftigt. „Ich geh’ dann mal mein Moped putzen“, sagte ich. „Isch komme gleisch un zeig dir was Korrektes!“, rief Ahmed mir noch hinterher.

Ich widmete mich halbherzig einer porösen Zylinderkopfdichtung, aus der fortwährend das Motoröl herausleckte. Der Boden der Garage war schon wie gesprenkelt von getrockneten Ölpfützchen. Irgendwann tauchte Ahmed wieder auf, die Hände auf dem Rücken, und fragte fachbübisch: „Tropft die?“ – „Nein“, erwiderte ich mürrisch, „die markiert nur ihr Revier. Wolltest du mir nicht was Korrektes zeigen?“ Da nickte er strahlend und hielt mir unter die Nase, woran er die ganze Zeit gebastelt hatte.

Ich sah.

Ich sah einen Bierdeckel.

Ich sah zwölf dicke Schmeißfliegen auf diesem Bierdeckel.

Ich sah sie dort sitzen, als wären sie darauf dressiert. Einige waren noch benommen und feucht, die anderen sirrten schon wie irrsinnig mit ihren Flügeln. Ich sagte: „Was zum Teufel …“, da ließ Ahmed den Bierdeckel auch schon los. Kreiselnd wie ein Hubschrauber bei Seitenwind erhob sich der Bierdeckel hoch über unsere Köpfe und verschwand, angetrieben von seinen zwölf unfreiwilligen Triebwerken in der Ferne. Noch lange starrte ich dem fliegenden Bierdeckel hinterher, fragend, mit hängendem Kiefer und Gänsehaut auf dem Rücken. Ahmed kicherte nur. „Superkleber“, sagte er.

Bierdeckel gesichtet? kolumne@taz.de Morgen: Bettina Gaus über FERNSEHEN